Der scheidende EU-Parlamentspräsident Martin Schulz erwartet, dass der neue US-Präsident bald dazulernt. Im Interview mit der „Welt“ spricht er zudem über einen Kanzler Gabriel und die Flüchtlingsfrage. Von Andre Tauber, Christoph B. Schiltz, Brüssel.

Das Trikot der spanischen Fußball-Nationalmannschaft hat sich Martin Schulz gesichert. Im Vorraum zu seinem Büro hat der scheidende EU-Parlamentspräsident Geschenke aufgestellt, die er in den vergangenen Jahren erhielt: Keramik, Bilder, Pokale und eben auch das Trikot der spanischen Fußball-Nationalmannschaft. Er hat es von König Felipe VI. Der Rest wandert ins Archiv. Am Dienstag wählt das EU-Parlament einen neuen Präsidenten.

Die Welt: Wie ist es, nach so vielen Jahren das Europaparlament zu verlassen?

Martin Schulz: Als ich Juni 1994 als Abgeordneter nach Brüssel kam, war meine Tochter acht Jahre alt und mein Sohn vier Jahre. Gestern waren meine Kinder und meine Frau hier. Meine Tochter ist mittlerweile verheiratet, und mein Sohn belehrt mich als Historiker über die EU-Geschichte. (lacht) Mein Abschied ist sicher emotional. Aber es ist gut und richtig, dass man in einer Demokratie Ämter und Mandate immer nur auf Zeit verliehen bekommt.

Die Welt: Sie wollen künftig Politik in Berlin machen. Dort weht in schärferer Wind als in Brüssel.

Schulz: Das Europaparlament ist kein politisches Wellnessressort. Wir beschließen Regeln für 508 Millionen Menschen in 28 souveränen Staaten. Die Gesetzgebung ist komplex. Der Druck ist enorm. Richtig ist allerdings, dass in Berlin ein viel größerer medialer Wirbel veranstaltet wird als in Brüssel.

Die Welt: Es können auch Freundschaften darunter leiden. Wie ist die Situation zwischen Ihnen und SPD-Parteichef Sigmar Gabriel? Sie beide gelten als Kanzlerkandidaten.

Schulz: Sigmar Gabriel ist einer meiner engsten Freunde. Niemand bringt uns auseinander, auch nicht die Frage, wer für die SPD als Bundeskanzler kandidiert.

Die Welt: Was würde Gabriel besser machen als Bundeskanzlerin Merkel?

Schulz: Sigmar Gabriel wäre ein besserer Bundeskanzler als Angela Merkel, weil er ein entschlossener Kämpfer gegen Populismus und für mehr Gerechtigkeit ist. Er hat eine Vision, wie man die Gesellschaft zusammenhält, und er hat die Unterstützung seiner Partei. Frau Merkel hingegen ist auf ihrem Weg oft alleine unterwegs.

Die Welt: Sind Sie noch einer der Kandidaten für das Kanzleramt?

Schulz: Alle Fragen zum SPD-Spitzenkandidaten werden am 29. Januar beantwortet werden.

Die Welt: Sie sind auch als Nachfolger von Frank-Walter Steinmeier als Bundesaußenminister im Gespräch. Wie steht es um die Beziehungen zu den USA unter Donald Trump als Präsident?

Schulz: Herr Trump ist sicherlich kein enthusiastischer Vertreter der europäischen Integration. Wir müssen und werden aber mit ihm als US-Präsident leben. Ich denke, dass er in kurzer Zeit feststellen wird, dass eine fruchtvolle Kooperation im Interesse der USA wie der EU ist. Auch im Senat und im Abgeordnetenhaus in Washington wird man die transatlantische Kooperation nicht so einfach zu den Akten legen.

Die Welt: Kann Europa einen US-Präsidenten akzeptieren, der mit russischer Hilfe an die Macht kam?

Schulz: Es liegt in der Verantwortung der USA, dies aufzuklären. Europa sollte Donald Trump als US-Präsidenten respektieren, was auch immer die Hintergründe seiner Wahl sein mögen. Im Gegenzug darf auch Europa von ihm Respekt einfordern.

Die Welt: Was heißt es für uns, wenn Russland in den USA maßgeblich Einfluss auf die Wahl genommen hat?

Schulz: Es wäre ein Alarmsignal für uns, sollte Russland die US-Wahl beeinflusst haben. In mehreren europäischen Staaten wird in diesem Jahr gewählt, darunter auch in Deutschland. Wir müssen alles tun, um zu vermeiden, dass andere Länder Einfluss auf Wahlen in Europa nehmen.

Die Welt: Wie können wir das vermeiden?

Schulz: Wir müssen etwa darüber sprechen, wie wir gegen Falschmeldungen im Internet vorgehen können.

Die Welt: Was können wir tun?

Schulz: Wir müssen mit den Betreibern von sozialen Netzwerken vereinbaren, dass Falschmeldungen kenntlich gemacht werden. Wenn sie nicht gleich zur Löschung gezwungen werden, haben sie sicher mehr Spielraum für eine Selbstverpflichtung. Gleichzeitig müssen wir diejenigen unterstützen, die Falschmeldungen im Internet identifizieren.

Die Welt: Viel Zeit bleibt nicht. In Frankreich kandidiert Marine Le Pen vom rechtsnationalen Front National als Staatspräsidentin.

Schulz: Wenn Frau Le Pen Präsidentin von Frankreich wird und ein Referendum über den Austritt aus dem Euro verlangt, dann führt das die EU und Frankreich in ein Desaster. Ich bin aber überzeugt, dass Marine Le Pen nicht die künftige Präsidentin Frankreichs sein wird.

Die Welt: Le Pen lehnt das Handelsabkommen TTIP ebenso ab wie US-Präsident Trump. Sehen Sie eine Chance, dass die Verhandlungen über das EU-USA-Handelsabkommen wieder aufgenommen werden?

Schulz: Wenn ich mir den Wahlkampf ins Gedächtnis rufe, erwarte ich nicht, dass TTIP ganz oben auf der Prioritätenliste von Donald Trump steht. Es liegt nun an der US-Regierung zu sagen, ob sie weitermachen möchte.

Die Welt: Es warten gewaltige Aufgaben auf die EU, etwa in der Flüchtlingspolitik. Die CSU und Österreich fordern eine europäische Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen. Wird die kommen?

Schulz: Eine Obergrenze ist keine Antwort auf die Flüchtlingsfrage, auch wenn sie europäisch vereinbart wird. Was machen wir denn mit dem ersten Flüchtling, der an die europäische Grenze kommt und für den kein Kontingent mehr zur Verfügung steht? Schicken wir den zurück in den vielleicht sicheren Tod? Solange diese Frage nicht geklärt ist, macht eine derartige Diskussion keinen Sinn.

Die Welt: Europa ist nicht nur in der Flüchtlingsfrage zerstritten, sondern auch darüber, welche rechtsstaatlichen und demokratischen Grundsätze gelten. Sollte die EU-Kommission dem Rat empfehlen, Sanktionen gegen Polen wegen des Verstoßes gegen die Rechtsstaatlichkeit zu erlassen?

Schulz: Sollte die EU-Kommission zum Schluss kommen, dass in Polen gegen die Rechtsstaatlichkeit verstoßen wird, dann sollte sie auch nicht zögern, dem Rat Sanktionen zu empfehlen. Sie muss frei von politischen Erwägungen die Lage in Polen analysieren.

Die Welt: Wenn Sie zurückblicken, was halten Sie als Präsident des Europäischen Parlaments für Ihre größte Leistung?

Schulz: Als ich vor fünf Jahren angefangen habe, sagte ich, ich möchte das Parlament sichtbarer und hörbarer und einflussreicher machen. Wenn ich zurückschaue, dann ist das gelungen. Das ist aber nicht mein Verdienst, sondern das des Parlaments insgesamt.

Die Welt: Europa insgesamt ist aber tiefer in die Krise gerutscht.

Schulz: Nein. Die EU ist sicher in einer sehr schweren Situation. Das liegt maßgeblich daran, dass viele Politiker in Brüssel Entscheidungen mittragen, sich zu Hause dann aber wieder davon distanzieren. Mein Aufruf an die EU-Staaten ist: Hört auf damit, den Schwarzen Peter nach Brüssel zu schieben!

Quelle: Die Welt / N24 | https://www.welt.de | link