Rede von Martin Schulz vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
Sehr geehrte Frau Präsidentin Brasseur,
sehr geehrte Abgeordnete, liebe Kolleginnen und Kollegen,
sehr geehrte Damen und Herren,
ich danke Ihnen für die Einladung und ich freue mich auf den nachfolgenden Gedankenaustausch mit Ihnen.
Sie kennen mich als leidenschaftlichen Kämpfer für die europäische Idee und den Parlamentarismus. Es ist deshalb eine Ehre für mich, zu Ihnen zu sprechen, hier in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, die nach dem Zweiten Weltkrieg die erste Parlamentarierversammlung auf europäischer Ebene war. Wir, das Europäische Parlament, sind in Ihre Fußstapfen getreten und wir sind stolz darauf.
Der Europarat gab zum ersten Mal der Idee der europäischen Einigung eine Form und eine Seele.
Der Europarat gründete das Fundament für eine europäische Wertegemeinschaft – Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und soziale Marktwirtschaft.
Der Europarat hat Maßstäbe gesetzt, an denen wir auch unser heutiges Handeln messen wollen. Die Europäische Konvention zur Achtung der Menschenrechte war ein großer Fortschritt im Völkerrecht.
Das Konzept der Menschenrechte, die Idee, dass jeder Mensch ungeachtet seiner Herkunft, seiner Religion, seiner Rasse oder seines Geschlechts unveräußerliche Rechte hat, frei von Angst und Entbehrung leben soll, das war der vielleicht größte revolutionäre Akt in unserer Geschichte, unsere größte Errungenschaft, unser wertvollster Besitz.
Mit der Europäischen Konvention zur Achtung der Menschenrechte wurden Sie zum europäischen Gewissen – und nach den Revolutionen in Mittel- und Osteuropa erneut zum Hoffnungsträger für die Demokratisierung dieser Gesellschaften.
Der Europarat schuf auch eine transnationale Parlamentarierversammlung, die zum ersten Mal im August 1949 in der Straßburger Aula zusammenkam und von ihrem ersten Präsidenten Paul-Henri Spaak später als „großartige Versammlung" bezeichnet wurde.
Und in der Tat, die Beratende Versammlung machte sich sofort daran, das zu tun, was Parlamentarier eben so zu tun pflegen: Beseelt von dem Wunsch, die europäische Einigung voranzutreiben, legten sie sich gleich mit dem Ministerkomitee an, forderten von den Ministern, auf ihr Veto zu verzichten, wollten die eigenen Kompetenzen erweitern und die Satzung ändern – ja, da kann schon ein Déjà-vu-Gefühl aufkommen, wenn man darüber nachdenkt, dass der Europäische Rat heute immer mehr Entscheidungen basierend auf dem Einstimmigkeitsprinzip trifft.
Paul Henri Spaak sagte damals etwas über die europäische Einigung, das auch heute noch seine Gültigkeit hat:
„Nur diejenigen könnten entmutigt werden, die sich einbilden, dass Europa durch ein ‚Sesam öffne dich' oder durch eine riesige Welle des Enthusiasmus geschaffen werden könnte. Nichts dergleichen wird geschehen. Ein organisiertes und vereinigtes Europa wird das Ergebnis langer und mühevoller Anstrengungen sein."
Nicht nur Europa, auch die europäische Demokratie ist das Ergebnis mühevoller Anstrengungen. Das erleben wir Parlamentarier jeden Tag.
In den letzten Jahren hetzt die EU von Gipfeltreffen zu Gipfeltreffen. Entscheidungen, die uns alle betreffen, werden von den Regierungschefs bei Sitzungen des Europäischen Rates hinter verschlossenen Türen getroffen. Ja, der Ereignisdruck der Märkte ist enorm, und einmalig mag das hinzunehmen sein, aber als perpetuierter Ausnahmezustand höhlt diese „Selbstermächtigung des Rates" – wie es der Philosoph Jürgen Habermas treffend formuliert – die europäische Demokratie aus.
Mich erinnert das immer an die Zeit des Wiener Kongresses im 19. Jahrhundert. Damals lautete die Maxime: knallhart nationale Interessen durchdrücken und das ohne demokratische Kontrolle.
Durch diese Vergipfelung, die Inflation von Gipfeltreffen, bei der die Regierungschefs entgegen dem Geist der Verträge immer mehr Entscheidungen an sich ziehen und sich bis in die Details der Gesetzgebung einmischen, werden die Gemeinschaftsinstitutionen zusehends an den Rand gedrängt. Es wird versucht, das Europäische Parlament von den Entscheidungsprozessen auszuschließen, und im Prinzip werden auch die nationalen Parlamentarier zu Erfüllungsgehilfen degradiert. Wenn Parlamente als unerfreuliche Zeitverschwendung, gar als Störfaktoren angesehen und bei der Entscheidungsfindung ausgebootet werden, dann ist das in der Tat eine besorgniserregende Entwicklung. Dieser Entwicklung müssen wir uns entschieden entgegenstellen:
Mehr Europa mit weniger Parlamentarismus wird es mit uns nicht geben!
Nur durch die Zusammenarbeit von nationalen und Europaparlamentariern wird es uns gemeinsam gelingen, die Exekutiven demokratisch zu kontrollieren und zur Rechenschaft zu ziehen. Mit der parlamentarischen Woche zum Europäischen Semester haben wir ein neues Kapitel in der Geschichte des Parlamentarismus eröffnet. Mehr als 150 Abgeordnete aus 26 Ländern haben an der letzten Tagung vor zwei Wochen teilgenommen. Das ist ein starkes Zeichen, dass beide Seiten eine verstärkte Zusammenarbeit bei der demokratischen Kontrolle der wirtschaftspolitischen Koordinierung wollen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich wünsche mir, dass wir auch die Zusammenarbeit mit Ihnen, der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, vertiefen und verstetigen. Obwohl wir mit Straßburg denselben Tagungsort haben, tagen wir doch nie zur gleichen Zeit.
Ich wünsche mir auch eine verstärkte Zusammenarbeit unserer Mitarbeiter – regelmäßige Kontakte auf Mitarbeiterebene würden es erleichtern, Fälle zu identifizieren, bei denen Kooperation auf politischer Ebene zielführend für beide Seiten wäre.
Bei Wahlbeobachtungsmissionen arbeiten wir ja bereits sehr erfolgreich zusammen. Ich denke da etwa an Wahlbeobachtungsmissionen in OSZE-Ländern, bei denen wir unsere Aktivitäten und Bewertungen eng aufeinander abstimmen. Auf diesen Erfolgen sollten wir unsere zukünftige Zusammenarbeit aufbauen.
Sehr geehrte Präsidentin Brasseur,
Ihr Amtsvorgänger Jean-Claude Mignon hat uns bei einem Besuch im Europaparlament in diesem Monat aufgefordert, die Expertise des Europarates mehr zu nutzen; er tat das mit den Worten „Utilisez-nous!".
Dieses Angebot nehme ich begeistert an! In vielen Bereichen fließt Ihre Expertise bereits in unsere Arbeit hinein. Zu nennen sind hier besonders die Resolutionen dieser Versammlung, die Berichte der Venedig-Kommission und die Urteile des Menschenrechtsgerichtshofes.
Wir arbeiten ja auch häufig an den gleichen Themen. Heute Morgen haben Sie über den Bericht von Frau Brasseur zu „Internet, Politik und Demokratie" debattiert. Auch wir sehen das als Schlüsselthema. Aus unserer Geschichte wissen wir um die Bedeutung des Schutzes der Privatsphäre und persönlicher Daten. Das ist kein Luxusgut. Diese Frage berührt grundlegende europäische Werte. Hier geht es um unser Selbstverständnis als freie Individuen! Deshalb arbeitet das Europäische Parlament mit Hochdruck an der wohl wichtigsten Reform unserer verbindlichen Datenschutzrichtlinie in einer Generation. Wir wollen Datenschutz mit klaren Rechten und starken Sanktionen!
Die jüngsten Enthüllungen haben uns allen vor Augen geführt, wie wichtig es ist, dass Europa sich nicht die Modelle anderer aufstülpen lässt, sondern dass wir basierend auf unseren Werten Höchststandards setzen!
In Fragen wie diesen könnten wir sicherlich durch eine enge Kooperation Synergieeffekte erzeugen. Denn unsere beiden Institutionen sind hier natürliche Partner. Die EU und der Europarat haben Maßstäbe gesetzt bei der Achtung der Menschenrechte und der Wahrung der Demokratie. An diesen Maßstäben müssen wir auch unser aktuelles Handeln ausrichten, ganz besonders was die aktuellen Entwicklungen in unserer Nachbarschaft betrifft.
Wir Parlamentarier teilen dieselben Sorgen, wenn Freiheitsrechte und Rechtsstaatlichkeit gefährdet sind. Wir sind bestürzt, dass es in einigen Ländern in unserer Nachbarschaft noch immer die Todesstrafe gibt und die Meinungsfreiheit oder die Versammlungsfreiheit beschnitten werden.
Wir teilen aber auch dieselben Hoffnungen, wenn unsere gemeinsamen Werte in neuen Verfassungen festgeschrieben und durch Reformen gefördert werden, wie aktuell in Moldawien und Tunesien.
Wir wollen auch weiterhin unsere Nachbarn auf ihrem Weg zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unterstützen!
Die Venedig-Kommission hat unsere südlichen Nachbarn erfolgreich bei der Ausarbeitung neuer Verfassungen unterstützt und unsere östlichen Nachbarn bei der Umsetzung von Wahlrechts- und Rechtsreformen.
Die Teilnahme von Kolleginnen und Kollegen aus Ländern in der Nachbarschaft der EU ermöglicht einen parlamentarischen Dialog über Menschenrechte, Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit – einen Dialog, der gekennzeichnet ist von gegenseitigem Respekt und dem Willen zur konstruktiven Zusammenarbeit.
Sehr geehrte Damen und Herren,
wie Sie wissen, war Premierminister Erdogan in der vergangenen Woche zu einem Meinungsaustausch mit den Fraktionschefs im Europäischen Parlament in Brüssel. Europaabgeordnete haben den Premierminister zum Teil heftig kritisiert, weil sie die Gewaltenteilung und die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei gefährdet sehen. Die AKP-geführte Regierung hatte in den letzten Jahren wirklich bemerkenswerte Fortschritte erzielt, besonders was die Rechtsstaatlichkeit und die Gewaltenteilung betrifft – doch jetzt werden diese Reformen zurückgefahren.
Leider gilt das auch für die Pressefreiheit. Dass ein EU-Beitrittskandidat von Reportern ohne Grenzen als „das weltgrößte Gefängnis für Journalisten" bezeichnet wird, ist eine Schande!
Für uns ist die Gewaltenteilung ein unverbrüchliches demokratisches Prinzip. Wir erwarten, dass jede Regierung, innerhalb und außerhalb der EU, die Gewaltenteilung garantiert!
Erlauben Sie mir den anwesenden türkischen Kolleginnen und Kollegen bei dieser Gelegenheit zu versichern: Wir unterstützen die Fortsetzung der Beitrittsgespräche – auf der Basis gemeinsamer Werte und eines geteilten Verständnisses von Rechtsstaatlichkeit.
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich weiß, dass Sie heute auch über die Ukraine debattieren werden. Erlauben Sie mir deshalb, einige Worte zu den dramatischen Entwicklungen der letzten Wochen zu sagen. Wir sind schockiert und traurig, dass es bei Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten Todesopfer gab.
Deshalb mein Appell an alle beteiligten Akteure: Stoppt die Gewalt! Redet miteinander und findet eine friedliche Lösung für diese Krise!
Wir, der Europarat und das Europäische Parlament, dürfen nicht tatenlos der Gewalteskalation in der Ukraine zusehen.
Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um einen Dialog zwischen den beteiligten Akteuren zu ermöglichen.
Und wir sollten im Falle einer weiteren Verschlechterung auch Sanktionen nicht von vornherein ausschließen.
Wir begrüßen es, dass das Parlament einige der umstrittensten Gesetze, die Versammlungsfreiheit und Redefreiheit beschneiden, gestern Morgen zurückgenommen hat. Das ist ein wichtiges Signal, dass ein Umdenken, dass eine Deeskalation begonnen hat. Aber es wird nicht ausreichen, um die politische Krise zu beenden. Dafür sind weitere Schritte notwendig.
Derzeit befinden sich die Hohe Beauftragte Catherine Ashton und eine Ad-hoc-Delegation des Europäischen Parlaments mit 12 Abgeordneten aus verschiedenen politischen Fraktionen, angeführt vom Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, Elmar Brok, in der Ukraine. Sie sprechen mit allen Akteuren, um eine friedliche Lösung für diese Krise zu finden. Nach ihrer Rückkehr wird unsere Delegation dem Europäischen Parlament Bericht erstatten und wir werden über unser weiteres Vorgehen entscheiden. Die Präsidenten Cox und Kwa?niewski stehen jedenfalls bereit, ihre Mission wieder aufzunehmen.
An dieser Stelle möchte ich auch noch einmal meinen Dank dafür aussprechen, dass die Cox-Kwa?niewski-Mission bei ihren 27 Missionen während 18 Monaten tatkräftig von der Venedig-Kommission und dem Europarat unterstützt wurde.
Es ist unsere gemeinsame Pflicht, die europäischen Hoffnungen des ukrainischen Volkes nicht zu enttäuschen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
was nach außen gilt, muss erst recht nach innen gelten: Der Grundrechteschutz in Europa ist nicht verhandelbar! Und wir werden uns allen Bemühungen in den Weg stellen, den Grundrechteschutz in Europa zu schwächen.
Darüber besteht über Fraktions- und Parteigrenzen hinweg Konsens! Erst vor ein paar Tagen sagte der Vorsitzende der EPP-Fraktion, Joseph Daul, dass die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit der Justiz eine der größten Herausforderung in den kommenden Jahren in Europa sein wird.
Denn wir haben ein Problem in der EU: Beitrittskandidaten werden auf Herz und Nieren geprüft, aber sind sie einmal aufgenommen, wird einfach davon ausgegangen, dass alle Probleme damit gelöst seien und auch keine neuen Probleme entstehen würden.
Wir haben keine geeigneten Instrumente, um mit solchen Situationen umzugehen. Deshalb prüfen wir derzeit die Möglichkeit analog zur Überwachung der Haushaltsdefizite eine Überwachung von „Grundrechtedefiziten" einzuführen. Ich erwarte, dass die Kommission in den nächsten Wochen einen innovativen Vorschlag machen wird. Ich möchte Ihnen aber versichern, dass wir nicht beabsichtigen, das Rad neu zu erfinden. Wir werden uns auf Bereiche konzentrieren, in denen die EU einen klaren Mehrwert bringt.
Sehr geehrte Damen und Herren,
der anstehende Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention ist ein starkes Signal, ein historischer Meilenstein. Damit wird die EU – und damit werden auch die EU-Verträge und die von uns verabschiedeten Gesetzestexte – dem Straßburger Gerichtshof unterliegen. Damit werden unsere beiden parlamentarischen Versammlungen noch enger miteinander verbunden.
Eine Delegation des Europäischen Parlaments wird dann mit Ihnen zusammen hier in diesem Plenum die Richter des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes wählen.
Und die alltägliche Gesetzgebungsarbeit des Europäischen Parlaments wird noch stärker unter dem Stern des Menschenrechtsgerichthofes stehen. Nach 50 Jahren künstlicher Trennung werden dann endlich Konvergenz und Kohärenz zunehmen.
Ich erwarte ungeduldig, dass wir nun auch die letzten Stufen hin zum Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention nehmen. Denn für die Zukunft wünsche ich mir, dass es uns gelingt, unsere Kräfte noch besser zu bündeln, um gemeinsam für die Achtung der Menschenrechte und die Wahrung der Demokratie zu kämpfen!
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und freue mich auf die Debatte mit Ihnen.