zurück

Rede von Martin Schulz anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe

Sehr geehrte Frau Dr. Böckelmann, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, lieber Frank Mentrup, sehr geehrter Herr Finanzminister, lieber Nils Schmid, sehr geehrte Damen und Herren, es ist eine große Ehre für mich, von der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet zu werden.

Lieber Herr Professor Baum, ich danke Ihnen für Ihre herzlichen Worte. Ihre wirklich beeindruckende Laudatio hat mich tief bewegt.

Bevor ich aber in meine Rede einsteige, will ich ein paar Worte zu dem Thema sagen, das heute viele Menschen zu Recht bewegt hat: die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, der zufolge die 3%-Hürde bei der Europawahl nicht rechtens ist.

Ich nehme diese Entscheidung mit Respekt entgegen, auch wenn ich mir ein anderes Ergebnis gewünscht hätte. Wir werden das Urteil nun in aller Ruhe auswerten. Jetzt kommt es aber sehr darauf an, dass wir für die Europawahl im Mai so mobilisieren, dass möglichst keine extremistischen Parteien ins Europaparlament einziehen.

Die demokratischen Parteien und die Zivilgesellschaft in unserem Land sind nun noch mehr gefordert, einen engagierten Europawahlkampf zu führen.

Ich wünsche mir, dass diejenigen politischen Kräfte gestärkt werden, die für ein demokratisches, ein freies und ein solidarisches Europa eintreten.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Ihre Hochschule bildet seit 1962 Lehrerinnen und Lehrer auf höchstem Niveau aus und hat sich der Aufgabe verschrieben, durch ihre Forschung die Qualität von Bildungsprozessen beständig zu verbessern.

Gute Bildung ist die Voraussetzung für Teilhabe an unserer Gesellschaft, aber auch für Chancengleichheit und den individuellen Aufstieg.

Bildung heißt Wissen, aber Bildung heißt auch, dieses Wissen beurteilen und anwenden zu können und dadurch neues Wissen hervorzubringen. Deshalb: Ja, gute Bildung ist die Voraussetzung, um unsere Wettbewerbsfähigkeit in einer globalisierten Wirtschaft aufrechterhalten zu können.

Gute Bildung ist aber über diese Zweckrationalität hinaus noch sehr viel mehr. Für mich ist Bildung ein Selbstzweck an sich. Denn Bildung bedeutet Autonomie, freie Selbstbestimmung und den Ausbruch aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, wie es zu Zeiten der Aufklärung hieß.

In einer immer komplexeren, sich ständig beschleunigenden Welt ist Bildung die Voraussetzung für das Fortbestehen unserer demokratischen und humanen Gesellschaft – einer Gesellschaft, in der Menschen als freie, autonome Individuen ein würdiges Leben führen können.

Gerade in einer Bildungseinrichtung will ich deshalb heute über eine Gefahr sprechen, die meines Erachtens uns Menschen droht; eine Gefahr, die unsere Autonomie und unsere Selbstbestimmung gefährdet – wenn wir nicht die richtigen Schlussfolgerungen ziehen.

Derzeit erleben wir eine erneute technologische Revolution: die Digitalisierung der Welt. Und ja, diese Digitalisierung verspricht mehr Wohlstand, mehr Arbeitsplätze und große Innovationen.

Erst vergangene Woche hat mir ein Technikexperte geschildert, wie durch die Digitalisierung individuelle Vorteile und kollektive Einsparungen im Gesundheitssystem erzielt werden könnten. Er war völlig überzeugt davon, dass durch technische Innovation quasi automatisch ein Wohlstandsgewinn erzielt werden könnte.

Wir sprechen hier von E-Rezepten, die mit einem Tastendruck vom Arzt zum Apotheker geschickt werden; von herzinfarktgefährdeten Menschen, die im Alltag rund um die Uhr medizinisch überwacht werden, um sie besser zu schützen; von personalisierten Medikamenten, die sensibel und unmittelbar auf die Bedürfnisse eines Menschen eingestellt sind. 15 Prozent Kosten könnte man damit sparen, so erklärte mir der Technikexperte.

In einer alternden Gesellschaft, in der die Kosten für die Gesundheitsversorgung exponentiell wachsen, klingt das erst mal sehr sinnvoll.

Aber es handelt sich hier eben nicht, wie uns die einflussreiche Digitallobby wortgewandt erklärt, um einen „rein" technologischen Fortschritt, den man völlig entpolitisiert betrachten kann.

Wohlgemerkt, technologischer Fortschritt ist nicht per se gut oder schlecht. Technologischer Fortschritt beinhaltet Möglichkeiten, wie etwas werden könnte. Es geht um Optionen, die so oder so ausfallen können.

Ich bin kein fatalistischer Kulturpessimist, der glaubt, die Digitalisierung ziehe unausweichlich den Untergang des Abendlandes nach sich.

Ich bin aber auch kein naiver Internetoptimist, der glaubt, dass die Digitalisierung aller Lebensbereiche automatisch ein Mehr an Lebensqualität, Demokratie, Sicherheit und Effizienz bringt.

Mir geht es darum, dass wir darüber nachdenken, was diese technologische Entwicklung für unsere Gesellschaft, unsere Demokratie, unsere Arbeitswelt und unser Menschsein bedeutet; dass wir eine Debatte darüber führen, was wir tun müssen, damit aus einem technologischen Fortschritt auch ein gesellschaftlichen und sozialen Fortschritt wird.

Und das heißt zunächst einmal, Fragen zu stellen:

Werden durch die Digitalisierung des Gesundheitswesens wirklich nur Kosten eingespart – oder hat das weiter reichende Folgen?

Können wir ausschließen, dass Krankenversicherungen nicht zunächst „gutes" Verhalten belohnen, um dann in einem nächsten Schritt „schlechtes", vermeintlich gesundheitsschädigendes, Verhalten zu sanktionieren und Menschen, die sich der „freiwilligen" Kontrolle verweigern, Risikoaufschläge aufdrücken, immer mit dem Argument, dass es für die Allgemeinheit „billiger" sei?

Bedeutet es wirklich ein Mehr an Unabhängigkeit, wenn wir kurz vor dem Schlafengehen noch Emails auf unserem Smartphone lesen?

Oder führt das zu einer Entgrenzung von Arbeit, bei der wir – ohne es zu merken – unser hart erstrittenes Recht auf Freizeit und Erholung einfach wegklicken?

Wird unsere Welt wirklich sicherer, wenn wir zulassen, dass ein „Supergrundrecht Sicherheit" dazu führt, dass wir nicht nur keine Wasserflasche mehr ins Flugzeug nehmen dürfen, sondern auch noch unsere Bewegungsbilder und Kommunikationsdaten abgeschöpft und gespeichert werden?

Bringt permanentes Online-Voting wirklich ein Mehr an Demokratie, oder trivialisiert es komplexe Probleme?

Was bedeutet es für unser Menschenbild, wenn wir durch die Vernetzung nur noch die Summe unserer Daten sind? Wenn wir in unseren Vorlieben und Gewohnheiten komplett abgebildet sind?

Mancher mag das jetzt für Science-Fiction halten, aber wir sind bereits auf dem Weg dahin:

Bereits heute ist es das Geschäftsmodell von Facebook und anderen sozialen Medien, unsere emotionalen Regungen und sozialen Beziehungen in ein ökonomisches Verwertungsmodell zu überführen.

Erst vor einigen Tagen hat Facebook den Messaging-Dienst WhatsApp für 19 Milliarden Dollar gekauft; 19 Milliarden Dollar für einen 50-Mann-Betrieb – aber mit 450 Millionen Nutzern weltweit. Das macht dann gut 42 Dollar pro Nutzer. Da kann man schon davon ausgehen, dass die Kapitalisierung über die Daten der Nutzer und möglicherweise auch eine Verknüpfung mit den Facebook-Daten erfolgt.

Deshalb: Unsere privaten Daten sind zu einem sehr wertvollen Wirtschaftsgut geworden.

Und der Trend weist darauf hin, dass der „gläserne Konsumbürger" der neue Archetyp des Menschen wird.

Es mag ja vielleicht angenehm erscheinen, wenn man beim Online-Buchhändler zielgenau Buchempfehlungen bekommt – wobei, dies mögen Sie mir als ehemaligem Buchhändler nachsehen, ich leidenschaftlich für den traditionellen Buchhandel plädiere und alle nur dazu anhalten kann, auf die Empfehlungen ihres Buchladens um die Ecke zu setzen!

Und bereits hier, bei der passenden Buchempfehlung, beginnt unsere Welt, sich zu verengen – auf vorsortierte Möglichkeiten.

Macht es uns wirklich freier, wenn wir nicht nur Musiktipps, sondern auch noch vorsortierte Informationen erhalten?

Google entscheidet maßgeblich, wo wir uns wie informieren und was wir bei wem kaufen. Die "Relevanz" der Treffer sei ausschlaggebend so Google. Aber wie diese "Relevanz" genau aussieht, nach welchen Kriterien die Suchergebnisse zustande kommen, das wissen wir nicht. Denn die Suchalgorithmen sind hochgeheim, das gutgehütete Geheimnis von Mathematikern

Am Ende werden wir dann nur mehr über Kaufangebote informiert, die vermeintlich zu uns passen. Erhalten nur noch politische und kulturelle Informationen, die vermeintlich unseren Interessen entsprechen. Ob uns das freier macht?

Gerade Menschen meiner Generation, die keine „digital natives" sind, fällt es schwer, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Und ich bekenne offen, dass ich viele der technischen Details gar nicht nachvollziehen kann.

Meine Tochter warf mir – der ich mich sehr lange geweigert habe, auch nur einen Computer zu besitzen, und noch immer ein Handy habe, das mittlerweile als Antiquität durchgeht –, meine Tochter hat mir also in einem Gespräch zu Recht vorgeworfen: „Du bist wie jemand, der sich vor hundert Jahren gegen das Aufkommen des Autos gewehrt hat und weiter mit der Pferdekutsche durch die Lande fahren will."

Und damit hat sie den Nagel auf den Kopf getroffen.

Denn wir können uns dem technischen Fortschritt nicht entziehen. Und wir dürfen uns auch nicht der Illusion einer „Wahlfreiheit" hingeben.

Gerade meine Generation denkt ja oft: „Man muss sich ja nicht unbedingt auf Facebook anmelden; wenn man es tut, dann ist man selber schuld." Aber für junge Menschen bedeutet, nicht auf Facebook oder in anderen sozialen Netzwerken zu sein, sich ins soziale Aus zu manövrieren.

Und sich der Digitalisierung ganz zu verweigern, das funktioniert einfach nicht mehr. Denn das bedeutet: keine Emails schreiben, nicht googeln, kein Navi oder Smartphone kaufen, kein Bankkonto führen, keinen Kredit beantragen; und schon gar nicht fliegen.

Deshalb: Wir müssen uns von dem Gedanken verabschieden, dass man die technologische Revolution kollektiv aufhalten oder sich ihr individuell entziehen könne, und auch von dem Irrglauben, es handle sich um einen „rein" technischen Fortschritt, den man entpolitisiert betrachten könne.

Ganz im Gegenteil. Wir müssen diesen Diskurs von der Netzcommunity in die Mitte der Gesellschaft holen, weil die Folgen uns alle betreffen werden, unabhängig davon, wie unser individuelles Netzverhalten ist.

Ich mache mir wirklich große Sorgen über die Verbindung von „Big Data" – der Datensammelwut durch Private und den Staat – und von „Big Government", also der hysterischen Überhöhung von Sicherheit im Gefolge von 9/11. Als „am Netz hängende Menschen" werden wir in allen Lebenssituationen überwacht.

Diese „Verdinglichung" des Menschen gefährdet in letzter Konsequenz unsere seit der Aufklärung errungenen Freiheitsrechte.

Die Unschuldsvermutung wird hier in ihr Gegenteil verkehrt. Zunächst ist jeder verdächtig und wird überwacht. Und wir internalisieren diese Überwachung. Beginnen, uns selbst zu zensieren. Ich erlebe immer öfter, dass Menschen nicht über bestimmte Dinge am Telefon sprechen wollen.

In einer Demokratie jedoch müssen Menschen frei ihre Meinung äußern und Informationen suchen können.

Im Umkehrschluss heißt das: Die Massenüberwachung gefährdet die Demokratie. Wenn das so weitergeht, dann sind wir bald bei einem Menschenbild angekommen, das sehr weit entfernt ist von unserer Vorstellung eines autonomen Individuums, das sich frei entwickelt, das sich bildet und es durch harte Arbeit „nach oben schafft".

Dann besteht wirklich die Gefahr, dass wir in die anti-liberale, anti-soziale und anti-demokratische Gesellschaft abgleiten.

Wohlgemerkt, noch haben wir es mit einer totalitären Technologie, aber noch nicht mit einem totalitären politischen Willen zu tun.

Aber wie Juli Zeh richtigerweise sagt: „Wissen bedeutet Macht, und Wissen über einen Menschen bedeutet Macht über diesen Menschen!"

Deshalb: Die Politik steht vor der Aufgabe, diese neue technologische Revolution zu zähmen und zu humanisieren. Was uns in der ersten industriellen Revolution gelungen ist, muss uns auch jetzt wieder gelingen.

Und das heißt, die großen Potenziale der digitalen Revolution ausschöpfen, diese Technik zum Nutzen der vielen und nicht der wenigen in unsere Gesellschaft integrieren und, unsere hart erstrittenen Bürgerrechte und unsere Freiheitsrechte verteidigen.

Und genau darin sehe ich eine wichtige Aufgabe für die Europäische Union. Weil es unsere Nationalstaaten einfach nicht mehr schaffen, mit den digitalen Großmächten – Konzernen gleichermaßen wie anderen Staaten – auf Augenhöhe zu agieren.

Erlauben Sie mir deshalb, kurz einige Punkte zu skizzieren, wie die Europäische Union die digitale Revolution in einen politischen Rahmen einfassen kann.

Erstens: Wir müssen durch eine kluge Wirtschaftspolitik sicherstellen, dass wir in Europa den technologischen Anschluss nicht verlieren, sondern das Potenzial der Digitalisierung für neue Jobs und neuen Wohlstand schöpfen. Das bedeutet, etwa gezielt EU-Gelder für Forschung und Entwicklung, aber auch für Training und Weiterbildung bereitzustellen.

Das bedeutet auch, eine öffentliche Informationsinfrastruktur aufzubauen und damit unabhängig von der IT-Infrastruktur anderer Staaten zu werden und allen Teilnahme zu ermöglichen.

Ja, das wird Milliarden kosten. Aber das sind Investitionen in unsere Demokratie, unseren Grundrechteschutz und unsere Wettbewerbsfähigkeit.

Lassen wir uns zweitens sicherstellen, dass Pluralität und Freiheit gerade im Bereich der Presse- und Meinungsfreiheit sichergestellt werden. Wenn zum Beispiel Google eine marktbeherrschende Stellung einnimmt - und in Europa laufen bis zu 90 Prozent aller Suchanfragen über Google - und damit andere Medien verdrängt, kann das eine Gefahr für die Demokratie werden. Weil Demokratie und eine freie und vielfältige Medienlandschaft genuin zusammengehören.

Wir sollten deshalb dringend überlegen, ob man kartellrechtlich bei solchen marktbeherrschenden Konzernen eingreifen muss, und wir sollten auch darüber nachdenken, inwieweit hier Urheberrechte verletzt werden, wenn Konzerne das von traditionellen Unternehmen erdachte und produzierte Wissen einfach mit "copy/paste" verwerten.

Gerade im 21. Jahrhundert ist es in einer immer unübersichtlicheren Welt von grundlegender Bedeutung, Medien zu behalten, die Orientierung geben und Alternativen benennen und dadurch eine freie Meinungsbildung ermöglichen.

Drittens müssen wir im Bereich der Datensammlung, der Datenspeicherung und der Datenweitergabe rechtliche Pflöcke einschlagen, um die Privatsphäre als unveräußerliches Grundrecht zu schützen und Missbrauch eindeutig zu sanktionieren. Denn die Autonomie des Individuums begründet unser Menschsein und muss absolut geschützt werden.

Dabei geht es mir weniger um Datenschutzrichtlinien, die letztlich immer nur auf eine besondere Herausforderung zu einem bestimmten Zeitpunkt reagieren und damit in gewisser Weise als Pflaster über ein Problem geklebt werden.

Mir geht es um eine grundlegende Antwort in der Form einer „Bill of Digital Rights", einer Charta der digitalen Grundrechte. In dieser „Bill of Digital Rights" sehe ich eine der ganz großen Aufgaben für die Politik und für die EU in den nächsten Jahren.

Nur mit und durch Europa kann es uns gelingen, die digitale Revolution zu zähmen, den entfesselten Kapitalismus zu bändigen und unsere hart erkämpften Freiheits- und Grundrechte zu verteidigen, die es uns erlauben, als freie Menschen ein würdiges Leben zu führen.

In den letzten Wochen haben wir alle Bilder von Menschen auf dem Maidan Platz gesehen, die für Freiheit und Demokratie ihr Leben riskierten - und dabei die EU-Fahne schwenkten.

Unser Europa, das wir all zu oft nur kritisieren, übt noch immer eine ungeheure Strahlkraft aus. Wir haben in Europa ein einzigartiges Gesellschaftsmodell geschaffen: mit Demokratie und Rechtstaatlichkeit; mit Freiheits- und Pressefreiheit; mit Gesundheitsversorgung und Rente; mit Bildung und Aufstiegschancen für alle. Wir haben eine Gesellschaft geschaffen, in der Kinderarbeit und die Todesstrafe keinen Platz haben. Wir haben allen Grund stolz darauf zu sein.

Aber es gibt für nichts eine Ewigkeitsgarantie. Auch nicht für die Art, wie wir heute leben. Die Aufgabe für die Politik ist, auf die Herausforderungen der jeweiligen Zeit Antworten zu finden. Im 19. Jahrhundert galt es die industrielle Revolution zu zivilisieren. Heute sind wir aufgerufen, die digitale Revolution zu humanisieren. Mit unseren europäischen Werten - Demokratie, Freiheit, Gleichheit und Solidarität - als Richtschnur unseres Handelns. Damit auch unsere Kinder und Kindeskinder ein würdiges Leben in Europa führen können.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.