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Rede im slovenischen Parlament von Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, Sehr geehrte Damen und Herren, ich bin geehrt und freue mich sehr, bei Ihnen in Ljubljana zu sein. Sehr geehrter Präsident der Nationalversammlung, Herr Veber, herzlichen Dank für Ihre Einladung, in diesem hohen Haus eine Rede zu halten.

Ich freue mich auf die nachfolgende Diskussion mit Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Wir erleben hochdramatische Tage in der Ukraine und eine wirklich beunruhigende Eskalation in der Krim-Krise.

Ich hoffe, dass es uns gelingt, einen bewaffneten Konflikt und die Spaltung des Landes zu verhindern, und dass wir es schaffen, einen Dialog zwischen beiden Seiten zu eröffnen.

Denn Menschen, die miteinander reden, schießen nicht aufeinander.

Und doch wird mir ein Bild aus den letzten Monaten immer in Erinnerung bleiben:

Ein Bild, das sich mir tief eingeprägt und mich stark bewegt hat: das Bild von den Menschen, die auf dem Maidan-Platz die Fahne der EU schwenkten.

Die Fahne unserer Wertegemeinschaft, die auf Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Freiheit gegründet ist.

Die Fahne unserer Friedensgemeinschaft, in der Erzfeinde sich die Hand zur Versöhnung reichten und Freunde wurden, Mauern niederrissen und Grenzen öffneten, Völker sich von Diktaturen befreiten und Demokratien aufbauten.

Die Fahne unserer Gemeinschaft, die für die Menschen auf dem Maidan-Platz die Hoffnung auf eine bessere Zukunft symbolisiert.

Mich haben diese Bilder deshalb so tief bewegt, weil ich im Gespräch mit Menschen oft erlebe, dass sie die friedenstiftende Funktion der EU als gegeben hinnehmen und die Möglichkeit, im grenzenlosen Europa reisen, arbeiten und leben zu können, als selbstverständlich .

Allzu oft wird die EU nur als regulierungswütige Bürokratie wahrgenommen.

Und ich verstehe, dass Menschen frustriert sind mit einer Politik, die ihre Probleme nicht löst, dass sie wütend sind, wenn Gewinne der Finanzbranche privatisiert und ihre Verluste dem Steuerzahler aufgebürdet werden.

Ich möchte, dass wir gemeinsam die EU verbessern, damit Europa für die Menschen wieder ein Versprechen für eine bessere Zukunft wird.

Denn genau dafür ist Politik ja schließlich da: um das Leben der Menschen besser zu machen.

Damit uns das gelingt, damit unsere Kinder eine gute Zukunft haben, dafür brauchen wir im 21. Jahrhundert die Europäische Union mehr denn je.

Erlauben Sie mir, einige Prognosen zu zitieren.

– 2050 werden wir Europäer gerade noch 5,4 Prozent der Weltbevölkerung stellen.

– 2050 wird kein einziges EU-Land mehr Mitglied der G-7 sein – weder Deutschland, Italien, Frankreich noch Großbritannien.

– 2050 wird voraussichtlich die Triade China-USA-Indien die Weltwirtschaft dominieren.

Diese Zahlen machen nachdenklich.

Die Welt verändert sich.

Das 21. Jahrhundert wird ein Jahrhundert der Weltregionen sein.

Der jetzige chinesische Staatschef Xi Jinping hat es einmal in einem Gespräch, das ich mit ihm führen durfte, folgendermaßen beschrieben:

Wir, sagte er, wir Chinesen mit 1,3 Milliarden Einwohnern sind eine Weltregion, unsere indischen Nachbarn mit ihren 1,1 Milliarden Einwohnern sind auch eine Weltregion, die USA sind eine Weltregion, Lateinamerika mit den aufsteigenden Mächten Brasilien und Mexiko ist eine Weltregion, die südostasiatischen Staaten, die ASEAN sind auch eine Weltregion.

So sagte Xi Jining: Das ist die Entwicklung der Welt.

Was ist mit Euch Europäern?

Seid ihr auch eine Weltregion?

Das ist die Frage, vor der wir Europäer stehen:

Welche Rolle wollen wir im 21. Jahrhundert spielen?

Wollen wir unsere Interessen durchsetzen und die Globalisierung nach unseren Werten mitgestalten?

Wollen wir unser demokratisches und soziales Gesellschaftsmodell bewahren?

Wie wollen wir den neuen Herausforderungen wie dem Klimawandel, dem internationalen Terrorismus, oder der Migrationsbewegungen begegnen?

Auf sich alleine gestellt, stoßen alle europäischen Staaten, auch mein Heimatland, bei diesen Fragen schnell an die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit.

Wenn wir Europäer uns in unsere Einzelteile aufspalten, weil wir dem Irrglauben erliegen, ausgerechnet jetzt sei die große Stunde des Nationalstaats gekommen, dann liegt die Konsequenz klar auf der Hand:

Dann driften wir Europäer in die weltpolitische Bedeutungslosigkeit ab.

Aber mit unseren 507 Millionen Bürgerinnen und Bürgern, mit unseren 28 Nationalstaaten, dem größten und reichsten Binnenmarkt der Welt sind wir ein echtes Schwergewicht.

Deshalb glaube ich: Alleine verliert jeder für sich, gemeinsam gewinnen wir alle zusammen.

Erlauben Sie mir an drei aktuellen Beispielen einmal konkret zu erläutern, was es für Vorteile bringt, wenn wir unsere Souveränität auf der europäischen Ebene bündeln:

Erstens, bei Handelsabkommen.

Wenn jedes europäische Land mit den USA, China, Indien oder Brasilien verhandelt, dann sind wir als Einzelkämpfer ziemlich machtlos.

Treten wir gemeinsam als weltgrößter Handelsblock auf, dann können wir unsere Wirtschaftsinteressen durchsetzen, unsere Arbeiternehmerrechte wahren und unsere Verbraucher- und Umweltstandards im Interesse unserer Bürgerinnen und Bürger sichern.

Auch in der Außenpolitik sollten wir mehr an einem Strang ziehen, gemeinsam für unsere Werte und unsere Interessen eintreten.

In der Ukraine-Krise erleben wir derzeit eine ungeheuer dramatische Eskalation.

Und ehrlicherweise muss man einräumen, dass sich die EU schwer damit tut, den richtigen Umgang mit Russland zu finden.

Wir haben keine klare Russland-Strategie.

Ich wünsche mir, dass wir im Sinne einer effektiven Außenpolitik vielmehr als bisher die Kapazitäten und Kompetenzen der einzelnen EU-Länder bündeln.

Denn jedes einzelne Mitgliedsland bringt spezifische nationale Erfahrungen, Interessen und Expertise mit.

Und das gilt es, zum Vorteil der ganzen EU zu nutzen.

Natürlich besteht die Gefahr, dass es zum Ausbremsen europäischer Positionierungen durch Sonderinteressen einzelner kommt.

Deshalb muss verhindert werden, dass nationale Eigenheiten, Vorlieben und Abneigungen die Beziehungen zu Schlüsselländern blockieren.

Dieser Gefahren bin ich mir bewusst.

Aber ich bin überzeugt, dass eine solche modulhafte Außenpolitik viel Positives brächte.

Denn die EU kann als einzige Macht der Welt eine regionenspezifische Außenpolitik verfolgen und dabei an funktionierende, historische Bündnisse anknüpfen:

Spanien und Portugal etwa pflegen enge, fast familiäre Bande zu Lateinamerika.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

erlauben Sie mir, noch einige Punkte zu einem wahrhaft historischen Projekt zu sagen: der Bankenunion.

Selbst das Musterland Slowenien, das nach den Beitritten 2004 als erstes Land die Stabilitätskriterien erfüllte und dem Euro beitrat, hat sehr schmerzhafte Erfahrungen mit Bankenkrisen und Bankenrettungen gemacht.

Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, wissen aus eigener Erfahrung, wie giftig faule Kredite und Bankverschuldung für die Wirtschaft sind, und wie wichtig Bankenrettungen für das Vertrauen der Menschen in die Politik sind.

Mit der Bankenunion wollen wir solche Krisen in Zukunft verhindern, indem wir Banken sicher machen.

Damit nie wieder die Bürgerinnen und Bürger für Bankenpleiten zur Kasse gebeten werden.

Für das Europäische Parlament stehen deshalb vier Ziele im Mittelpunkt:

Wir wollen eine effektive Kontrolle und Überwachung der Banken sicherstellen.

Wir wollen den Teufelskreis zwischen Bankschulden und Staatschulden durch einen funktionsfähigen Abwicklungsfond sprengen.

Wir wollen eine schnellere Entschuldung des Bankensektors gewährleisten, damit endlich die Kreditklemme behoben wird, und die Steuerzahler schützen, indem zukünftig der Grundsatz gilt: Banken retten Banken.

Wenn das gelingt, dann können marode Banken nicht länger andere Banken mit in den Abgrund reißen, Staaten in wirtschaftliche Schwierigkeiten stürzen und den Steuerzahler in Haftung nehmen.

Das Europäische Parlament ist besorgt, dass die Vorschläge des Ministerrats hinter einer funktionsfähigen Bankenunion zurückbleiben.

Wir haben in den Verhandlungen große Kompromissbereitschaft an den Tag gelegt und werden das auch weiterhin tun. Wir hoffen, dass sich der Finanzministerrat hin zu einer guten Lösung im Sinne der europäischen Bürger und der Banken bewegt. Wir zählen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dazu auch auf Ihre Unterstützung. Durch die Bankenkrise wurden in vielen Ländern nicht nur ungeheure Geldmengen verbrannt. In der Wirtschaftskrise mussten wir nicht nur Einbußen bei Produktionsquoten hinnehmen. Wir haben etwas viel Kostbareres verloren: unseren Optimismus für die Zukunft.

Ich verstehe, dass Menschen frustriert sind mit Politikern, enttäuscht von demokratischen Institutionen, wütend auf Banken. Die Jugendarbeitslosigkeit ist eine europäische Tragödie. Und ich weiß, auch in Ihrem Land findet jeder vierte junge Mensch, der arbeiten will, keinen Job.

Junge Menschen, die gut ausgebildet sind, „alles richtig gemacht haben", zahlen mit ihren Lebenschancen für eine Krise, die sie nicht verschuldet haben.

Diesen jungen Menschen schulden wir, die heute handelnde Politikergeneration, unseren größten Mut, unsere ganze Tatkraft und unsere besten Ideen.

Wir haben in der EU bereits einiges angepackt: Es gibt jetzt die Europäische Jugendgarantie. Wir müssen aber mehr tun, viel mehr tun.

Und gemeinsam können wir das! Unsere erste Priorität muss die Schaffung von Arbeitsplätzen, guten Arbeitsplätzen, sein. Wir müssen endlich die Kreditklemme überwinden, unseren kleinen und mittleren Unternehmen beistehen – denn sie sind das Rückgrat unserer Wirtschaft.

Sie sind es, die für Wachstum sorgen. Sie sind es, die die meisten Arbeitsplätze schaffen!

All das sind Politikbereiche in denen die EU liefern kann und liefern muss.

Dafür brauchen wir keinen Superstaat EU.

Ich will keine Vereinigten Staaten von Europa nach dem Modell der USA.

Denn Nationalstaaten sind kein Provisorium der Weltgeschichte sondern das politische Gehäuse des Gefühls Franzose, Schwede, Portugiese, Pole, Deutscher oder Slowene zu sein.

Wir werden auch weiterhin Slowenen und Deutsche bleiben. Das merkt man schon daran, wie wichtig uns unsere Muttersprache und unsere kulturellen Eigenheiten sind.

Und natürlich auch beim Fußball.

Oder bei den Olympischen Winterspielen.

Erlauben sie mir, Ihnen zu den acht Medaillen zu gratulieren – ein wirklich tolles Ergebnis!

Ja, die Nationalstaaten werden bleiben.

Und das ist auch gut so.

Denn Menschen brauchen Heimat.

Gerade auch in einem Land wie dem Ihren.

Ein Land, das umwälzende Ereignisse erlebt hat, wie den Zusammenbruch Jugoslawiens, den Zehntagekrieg, dann das Referendum 1991 zur Unabhängigkeit und im März 2003 die Volksabstimmung zum EU-Beitritt – mit 90 Prozent Zustimmung!

Ihr Land hat dramatische Veränderungen in sehr kurzer Zeit durchlebt, und in wenigen Jahren eine pluralistische Demokratie und einen Staatsapparat aufgebaut.

In einem Land wie dem Ihren ist die nationale Selbstbestimmung verständlicherweise ein kostbares Gut.

Und ich habe immer den Pragmatismus der Slowenen bewundert, die ganz selbstverständlich verstehen, dass sich nationale Selbstbestimmung und die nüchterne Einsicht, dass man in einem größeren Verband wie der EU in einer unübersichtlichen Welt besser aufgehoben ist, nicht widersprechen sondern ergänzen.

Und liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will auch keine EU, die sich in alles einmischt, die alles regeln will.

Aus meiner Zeit als Bürgermeister weiß ich: Je näher Entscheidungen an den Menschen getroffen werden, desto demokratischer und besser sind sie.

Deshalb gilt: Was lokal, regional oder national gemacht werden kann, das soll lokal, regional oder national gemacht werden.

Die EU brauchen wir dort, wo sie für die Menschen einen zusätzlichen Schutz bietet.

Weil wir gemeinsam stärker sind.

Wir haben in Europa ein einzigartiges Gesellschaftsmodell geschaffen.

Bei uns gibt es eine freie Presse und unabhängige Gerichte, Kranken- und Rentenversorgung, freien Zugang zu Bildung und Aufstiegschancen für alle, parlamentarische Demokratie und politische Teilhabe, Gleichberechtigung und verbriefte Bürgerrechte, und die höchsten Sozial- und Umweltstandards weltweit – aber weder Kinderarbeit noch die Todesstrafe.

Bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt.

Das ist die Gesellschaft, in der ich leben will.

Ich will, dass auch meine Kinder in diesem Europa leben können.

Dafür brauchen wir Europa.

Vielleicht ist nicht alles perfekt in der Europäischen Union. Aber dann lasst uns Europa gemeinsam besser machen, damit Europa auch für die junge Generation das Versprechen für eine gute Zukunft ist.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.