zurück

Rede von Martin Schulz zur Tagung des Europäischen Rates am 30. August 2014

Sehr geehrte Damen und Herren, Sie werden heute einen wichtigen Posten besetzen, den der oder des neuen Hohen Vertreters für die EU-Außen- und Sicherheitspolitik.

Unabhängig von der Person, die dieses Amt ausfüllen wird, ist dies eine gute Gelegenheit einen Moment inne zu halten und sich Gedanken zu machen über unsere Nachbarschaftspolitik und über die Rolle, die die EU in einer Zeit und einer Welt spielen will, die geprägt ist von Unsicherheit und Unübersichtlichkeit.

Kriege finden in unserer unmittelbaren Nachbarschaft statt, Staaten zerfallen, und Zivilbevölkerungen fliehen - so es ihnen möglich ist - vor den schlimmsten Grausamkeiten.

Wir sind mit hochgefährlichen Konflikten konfrontiert, im Osten wie im Süden.

Die EU leistet beachtliches, wenn es darum geht humanitär zu helfen oder Gelder für Hilfsorganisation bereitzustellen. Es ist gut dass wir das tun und es ist unerlässlich, auch weiterhin zu helfen.

Allerdings sollten wir unsere internationale Rolle nicht darauf beschränken.

Wir stehen vor der Entscheidung:

wollen wir gemeinsam und geschlossen als Europäische Union - und der Vertrag von Lissabon gibt uns die entsprechenden Instrumente an die Hand - agieren und damit als Ernst zunehmender Akteur der internationalen Politik auftreten, oder finden wir uns damit ab, dass unsere Bedeutung im 21. Jahrhundert abnehmen wird.

Die Menschen erwarten, dass die EU eine aktivere Rolle auf internationaler Ebene spielt.

Wir müssen nationale Befindlichkeiten hinter uns lassen und endlich zu einer wirklichen gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, einschließlich einer gemeinsamen Energie- und Verteidigungspolitik, finden, die den neuen globalen und regionalen Realitäten Rechnung trägt.

Ukraine

Die Situation in der Ukraine erfüllt uns mit größter Sorge.

Wir wollen und brauchen eine politische Lösung des Konflikts im Osten der Ukraine.

Wenn es zu einer direkten militärischen Konfrontation zwischen der Ukraine und Russland kommen sollte, droht eine unkontrollierbare Eskalation.

Die Konfliktparteien und die internationale Gemeinschaft müssen alles tun, um dies zu vermeiden.

Von außerordentlicher Bedeutung hierfür ist ein kohärentes und geschlossenes Auftreten der EU.

Die internationale Gemeinschaft muss entschlossen reagieren.
Sie müssen heute über mögliche weitere Sanktionen einerseits, und ein nochmaliges Verstärken unserer diplomatischen und politischen Bemühungen andererseits beraten und entscheiden,

Nötig ist ebenso ein ehrgeizigeres Hilfspaket der EU und ihrer Mitgliedstaaten für den Osten der Ukraine.

Die Augen sind heute auf die Europäische Union gerichtet und es ist wichtig, dass ein starkes Signal von dem Gipfel ausgeht.

Mit den am 31. Juli beschlossenen Sanktionen wurde ein wichtiger Schritt getan und der Druck auf Russland erhöht, endlich zur Deeskalierung der Lage in der Ukraine beizutragen.

Uns ist klar, dass Sanktionen immer auch die eigene Wirtschaft treffen. Die EU hat mit ihren Maßnahmen zur Unterstützung der Erzeuger leicht verderblicher Lebensmittel schnell und umsichtig auf die willkürlichen Sanktionen Russlands reagiert. Entscheidend ist, dass die Hilfe nun schnell und unbürokratisch bei den Betroffenen ankommt.

Sanktionen, die übrigens gegenüber der EU als Ganzes ausgesprochen wurden, und nicht gegenüber einzelnen Mitgliedsländern - ein Zeichen, dass Russland uns als Einheit betrachtet.

Wir fordern von Russland unverzüglich eigene Truppen aus der Ukraine abzuziehen, sowie
die Stärke seiner Truppen an der Grenze zur Ukraine zu verringern und sie innerhalb kürzester Zeit von der Grenze zur Ukraine von dort zu entfernen.

Das Europäische Parlament bekräftigt ebenso seine Forderung an Russland, Maßnahmen zur wirksamen Kontrolle seiner Grenze zur Ukraine zu treffen und das ununterbrochene Einsickern von bewaffneten illegalen Kämpfern, Waffen und Ausrüstung, sowie feindselige Handlungen und Infiltrationen zu unterbinden.
Ohne eine wirksame Kontrolle der russisch-ukrainischen Grenze werden wir zu keiner friedlichen Lösung kommen.

Zudem muss Russland die Aufständischen und Söldner mittels seines Einflusses dazu zwingen, ihre Waffen niederzulegen und sich über einen Rückzugskorridor nach Russland zurückzuziehen.

Auf diese Weise kann Russland belegen, dass es wirklich an einer Deeskalation der Krise interessiert ist.

Klar ist, dass ohne das konstruktive und ernsthafte Engagement Russlands kein dauerhafter Frieden erreicht werden kann.

Zweifellos ist es das wichtigste, den Konflikt im Osten der Ukraine zu beenden und die Wirtschaft des Landes zu stabilisieren.

Wir müssen der Ukraine sowohl finanziell als auch politisch helfen diese großen Herausforderungen zu bewältigen, damit es als geeintes und unabhängiges Land fortbestehen kann.

Nach der Ankündigung für vorgezogene Neuwahlen am 26. Oktober werden sich die neukonstituierten ukrainischen Institutionen mit der Umsetzung der ambitionierten europäischen Reformagenda befassen müssen.

Von der Ukraine erwarten wir, dass der mutige Weg der Reformen fortgesetzt wird, um die Rechtsstaatlichkeit zu stärken, Straflosigkeit und Korruption zu beseitigen sowie die Einhaltung internationaler Menschenrechtsnormen sicherzustellen, insbesondere was Minderheiten betrifft.

Das Europäische Parlament unterstützt ausdrücklich die Unterzeichnung des verbleibenden Teils des Assoziierungsabkommens mit den Bestimmungen über eine vertiefte und umfassende Freihandelszone.

Entscheidend ist nun dessen zügige Ratifizierung, denn wir sind davon überzeugt, dass das Abkommen eine Triebfeder für Reformen in Politik und Wirtschaft sein wird und zu einer Modernisierung, der Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und der Stimulierung des Wirtschaftswachstums führen wird.

Das Europäische Parlament wird das seinige tun und das Abkommen nach einem beschleunigten Verfahren zur Abstimmung stellen.

Irak

Im Irak ist die Lage dramatisch. Wir werden Zeuge einer humanitären Katastrophe. Eine Million Menschen sind auf der Flucht vor den ISIS-Truppen und werden Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Die Grausamkeit und Unmenschlichkeit der Terroristen sind entsetzlich und machen uns alle fassungslos.

Wir dürfen die Menschen im Irak nicht im Stich lassen. Die Vertriebenen, vor allem Jesiden Christen und Turkmenen, sind auf umfangreiche Hilfe angewiesen, die wir schnell und unbürokratisch leisten müssen.

Die EU, ebenso wie viele Mitgliedstaaten, hat bereits Gelder zur Verfügung gestellt, um die humanitäre Notversorgung der Flüchtlinge sicherzustellen und die Kurdische Regionalregierung in ihrem Kampf gegen die humanitäre Not und den Vormarsch der Terroristen zu unterstützen.

Wir können und müssen jedoch mehr tun, um das unvorstellbare Leid der Menschen zu lindern. Und wir müssen uns auf ein längerfristiges Engagement einstellen.

Erlauben Sie mir hier eine grundsätzliche Bemerkung:

Der Bedarf an humanitärer Hilfe und unsere Verpflichtungen, diese Hilfe zu leisten, gehen weit über das hinaus, was im Jahreshaushalt und im MFR als Zahlungsermächtigungen vorgesehen war. Schlimmer noch, das Budget für humanitäre Hilfe begann dieses Jahr mit einem aus 2013 übertragenen Defizit.

Wir fordern den Rat und die Kommission nachdrücklich auf, den Rückstand bei den Zahlungen für humanitäre Unterstützung zu beseitigen, indem die notwendigen Haushaltsänderungen als vorrangige Maßnahme vorgenommen werden.

Es ist nicht zu verstehen, dass wegen unrealistischer, unangemessener und unflexibler Budgetierung sich die Zahlungen der EU verzögern und humanitäre Aktionen blockiert sind, während Menschen an Orten wie Syrien, Gaza, Irak, Ukraine, Zentralafrika und Südsudan oder Liberia leiden und um ihr Überleben kämpfen.

Die Sicherheitslage im Nordirak ist eine existentielle Bedrohung für den irakischen Staat und für die gesamte Region.

Die internationale Gemeinschaft ist gefordert, einen Kollaps des irakischen Staatswesens und so die Gefahr eines drohenden Flächenbrandes zu verhindern, von dem natürlich auch die EU betroffen wäre.

Auf Ihrer Tagung am 15. August haben die Außenminister zu Recht darauf hingewiesen, wie wichtig die Stabilisierung der politischen Lage in Bagdad ist, um die volle Kontrolle über das gesamte Gebiet des Nordirak zurückzugewinnen, dem brutalen Vorgehen der ISIS-Terroristen Einhalt zu gebieten und im Irak für Sicherheit, Frieden und Aussöhnung zu sorgen

Mit der Nominierung von Haider Al-Abadi zum neuen Ministerpräsidenten verbinden wir die Hoffnung auf eine neue, handlungsfähige Regierung, die alle gesellschaftlichen und religiösen Gruppen einbindet.

Das Europäische Parlament ruft alle regionalen Akteure dazu auf, einen Beitrag zur Förderung der Sicherheit und Stabilität im Irak zu leisten und insbesondere die irakische Regierung dabei zu unterstützen, alle religiösen und ethnischen Gruppen einzubeziehen und die Armee zu einer unparteiischen Streitkraft umzustrukturieren, die alle politischen Kräfte und religiösen Gruppen repräsentiert.

Dringend müssen wir unsere interne Kooperation verstärken, um die Rekrutierung von ISIS-Kämpfern in unseren Ländern zu unterbinden. Vergessen wir nicht, dass Tausende Europäer sich der ISIS im Irak und in Syrien angeschlossen haben.

Zugleich müssen wir mit unseren internationalen Partnern an einer globalen Strategie arbeiten zur Bekämpfung dschihadistischer Organisationen, die in einem Gebiet von der Sahelzone bis Afghanistan, operieren.

Naher Osten

Nach vielen Wochen der Gewalt und Gegengewalt, des sinnlosen Mordens und des unendlichen Leids der Zivilbevölkerung haben uns Mitte dieser Woche ermutigende Nachrichten aus dem Nahen Osten erreicht.

Ich begrüße ausdrücklich die Einigung auf eine unbefristete Waffenruhe in Gaza und rufe alle Parteien auf, sich an die getroffenen Vereinbarungen zu halten. Die Lockerung der Blockade des Gaza-Streifens ist ein wichtiger Schritt.

Nun brauchen wir eine umfassende und nachhaltige Lösung.

Das Europäische Parlament begrüßt die Bereitschaft der EU ihren Beitrag zur Verbesserung der Sicherheits- sowie der humanitären und wirtschaftlichen Lage von Israelis und Palästinensern vor Ort zu leisten. Darauf hat sich der Rat der Außenminister vor zwei Wochen zu Recht geeinigt.
Zweifellos ist die EU ein wichtiger Partner wenn es etwa um Training für Polizisten oder den Aufbau ziviler und Verwaltungsstrukturen geht.

Das Europäische Parlament ist jedoch der Ansicht, dass die EU - als verlässlicher und glaubwürdiger Partner sowohl Israels als auch der Palästinenser - mehr denn je in der Position ist, ehrgeizige diplomatische Initiativen zu ergreifen und die Wideraufnahmen von Friedensverhandlungen voranzutreiben.

Das Europäische Parlament hat in der Vergangenheit mehrfach seine Unterstützung für eine Zweistaatenlösung zum Ausdruck gebracht.

Kommission

Im Herbst sollen die öffentlichen Anhörungen der designierten Kommissarinnen und Kommissare beginnen.

Wie in der Vergangenheit wird das Parlament auch diesmal gewissenhaft und mit großer Sorgfalt die Kompetenz und fachliche Eignung der Kandidatinnen und Kandidaten prüfen.

Lassen Sie mich an dieser Stelle jedoch einen Punkt ansprechen, der dem Parlament große Sorge bereitet und auf den ich bereits während des Europäischen Rates am 16. Juli hingewiesen habe:

Derzeit kursieren fast ausschließlich Namen von Männern als potenzielle Kandidaten für die neue Kommission.

Die Vorsitzenden der Fraktionen im Europäischen Parlament haben bereits deutlich zum Ausdruck gebracht, dass der Anteil der Frauen in der neuen Kommission ein kritischer Punkt für die Zustimmung des Parlaments sein wird.

Auch Jean-Claude Juncker hat ausdrücklich darum gebeten, ihm Listen mit mehreren Kandidatinnen und Kandidaten aus den einzelnen Ländern zu präsentieren. Leider haben diesem Wunsch nur wenige Länder entsprochen.

Eine Kommission, in der angemessenes Geschlechterverhältnis nicht gewährleistet ist - wie es derzeit der Fall zu sein scheint - riskiert, keine Mehrheit im Parlament zu finden und durchzufallen.

Wir brauchen aber eine Kommission, die schlagkräftig und handlungsfähig ist und die vor uns liegenden Herausforderungen engagiert und mit einem überzeugenden Mandat des Parlaments angehen kann.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.