Sehr geehrte Frau Parlamentspräsidentin Graužinienė,
sehr geehrte Kollegen aus dem Europäischen Parlament und dem Seimas,
sehr geehrte Damen und Herren,

vor 25 Jahren hatte sich überall der Funke der Freiheit entzündet, wohin man in Europa auch blickte: Auf der Danziger Werft war eine Arbeiterbewegung entstanden. Seit dem vorhergehenden Jahr hatte die Solidarność Generalstreiks in Bergwerken und auf Werften organisiert und damit den Betrieb dort lahmgelegt. Als wirkliche Arbeiterbewegung demaskierte sie den vermeintlichen Arbeiterstaat und stürzte schließlich das Regime.

Der Funke der Freiheit hatte sich auch in Prag entzündet, wo die Samtene Revolution mit den Demonstrationen auf dem Wenzelsplatz ihren Lauf nahm. Die Stimmen von Hunderttausenden von Menschen vereinten sich zu dem Ruf „Havel auf die Burg“. Und sie stürzten die Regierung. Der Funke der Freiheit hatte sich auch in Leipzig und Berlin entzündet, wo die Menschen auf die Straße gingen und „Wir sind das Volk“, immer wieder „Wir sind das Volk“ riefen. Bis die Berliner Mauer fiel, das Symbol der Teilung, der Teilung Deutschlands und Europas. Auch in Wilna hatte sich der Funke der Freiheit entzündet.

Am 23. August 1989 bildeten die Menschen eine Menschenkette, die von Wilna über Riga bis Tallinn reichte. 1,8 Millionen Menschen standen Hand in Hand in den drei baltischen Staaten und erinnerten auf diese Weise an den 50. Jahrestag der Unterzeichnung des Molotow-Ribbentrop-Pakts. Zur nächtlichen Stunde fanden spontane Treffen statt, um gemeinsam zu singen.

Und mit dieser gewaltfreien „Singenden Revolution“ erstritten sich die baltischen Völker ihre Unabhängigkeit. Wie leicht hätten die Demonstrationen in einem tragischen Blutvergießen enden können: Wie in Berlin 1953, in Budapest 1956, in Prag 1968 oder in Peking 1989. Dass Spruchbanner, Kerzen und Blumen, Gesang und Gebete über Panzer und Gewehre, über Mauern und Grenzen triumphieren würden, das war wirklich nicht garantiert. Dies müssen wir uns heute vor Augen halten, um zu verstehen, welch ungeheuren Mut diese Menschen aufbrachten, welche Ängste sie ausstanden und überwanden, weil sie in einer freien und gerechten Gesellschaft leben wollten. Wir sind diesen mutigen Menschen zu großem Dank verpflichtet.

Meine Damen und Herren,

ein litauischer Kollege hat unlängst zu mir gesagt, dass es ihm noch immer wie ein Wunder vorkomme, dass Litauen nach Jahrhunderten leidvoller Geschichte, nach Jahrhunderten der Besetzung und Unterdrückung heute ein freies und demokratisches Land und Teil der europäischen Familie ist, und dass es den Litauern heute besser gehe, als jemals zuvor in ihrer langen Geschichte.

Aufgrund seiner geographischen Lage hat Litauen über Jahrhunderte unermessliches Leid erfahren.

Zwischen den Großmächten Deutschland und Russland eingezwängt, waren Unabhängigkeit und Freiheit die glückliche Ausnahme, Unterdrückung und Blutvergießen die traurige Regel.

Wer hätte sich in den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als Litauen unendlich unter der brutalen Besatzung durch Nazi-Deutschland litt, das fast die gesamte jüdische Bevölkerung dieses Landes ermordete, wer hätte sich damals vorstellen können, dass Litauen heute zusammen mit Deutschland Teil eines friedlichen und geeinten Europas sein würde?

Wer hätte sich inmitten des Kalten Krieges vorstellen können, dass sich dank der „Singenden Revolution“ und im Anschluss an ein Referendum die Selbstbestimmung durchsetzen und Litauen 1990 als erstes baltisches Land unabhängig werden würde?

Es wurde wahr:

Litauen wurde frei und unabhängig. Doch Erfüllung fanden diese Revolution und die europäische Einigung erst, als die Menschen in ihrem Streben nach Freiheit den Eisernen Vorhang niederrissen und die mittel- und osteuropäischen Staaten endlich der Europäischen Union beitreten konnten. Für die mittel- und osteuropäischen Völker ging es in diesen Revolutionen nicht nur darum, sich des sowjetischen Jochs zu entledigen. Es ging ihnen auch um – so ein zentraler Leitsatz des Jahres 1989 – die „Rückkehr nach Europa“. Wie der große Historiker Tony Judt schreibt: „Das Gegenteil von Kommunismus war nicht ‚Kapitalismus‘, sondern ‚Europa‘.“ Europa – das war für sie Freiheit und Gerechtigkeit. Demokratie und Solidarität. Wohlstand und Sicherheit.

Vor zehn Jahren, am 16. April 2003, unterzeichnete Litauen zusammen mit neun weiteren Kandidatenländern den Vertrag für den Beitritt zur EU. Damit wurde Europa nicht erweitert, sondern die künstliche Teilung unseres Kontinents überwunden. Die neuen Mitglieder wurden nicht Europäer – sie sind schon immer Europäer gewesen. Aber diese späte Wiedervereinigung Europas brachte endlich allen Europäern die Chance auf Frieden und Freiheit. Die harten Zeiten waren für Litauen damit allerdings noch nicht vorbei: Infolge der globalen Finanzkrise erlitt das Land einen dramatischen Konjunktureinbruch um 15 Prozent.

In dieser Zeit habe ich Estland, Lettland und Litauen einige Male besucht. Es hat mich tief beeindruckt, mit welcher Würde, mit welcher Gelassenheit, und zugleich mit welcher Entschlossenheit die Menschen der Wirtschaftskrise begegnet sind. Von der litauischen Bevölkerung wurden ungeheuer harte Opfer abverlangt. Die öffentlichen Ausgaben und die Rentenzahlungen wurden drastisch gekürzt. Ja, die Menschen in Litauen nahmen harte Opfer auf sich – und trotz dieser Opfer verloren die Menschen nie den Glauben an Europa. Man muss sich einmal in die Lage der litauischen Bevölkerung hineinversetzen: Verständlicherweise war mit dem EU-Beitritt die Hoffnung auf eine bessere Zukunft verbunden. Dann kam keine fünf Jahre nach dem EU–Beitritt der Schock in Gestalt einer tiefen Wirtschaftskrise. Trotz dieser Erfahrung hielten die Litauer unerschütterlich an ihrem Glauben an die EU fest.

Sie erkoren nicht Brüssel zum Sündenbock. Im Gegenteil, die Litauer gehören noch immer zu den proeuropäischsten Völkern. Mehr als Zweidrittel der Litauer sind begeisterte Europäer, und zum 1. Januar diesen Jahres ist Litauen dem Euro-Währungsgebiet beigetreten.

Nein, die Litauer sind wirklich keine Gutwettereuropäer. Sie halten in guten wie in schlechten Zeiten an der Idee Europa fest. Das litauische Volk hat in seiner Geschichte unermessliches Leid erfahren; es musste sich seine Unabhängigkeit und seinen rechtmäßigen Platz in der europäischen Völkerfamilie erkämpfen, und es hat erhobenen Hauptes unter vielen Entbehrungen eine Wirtschaftskrise bewältigt. Mit seinem unerschütterlichen Vertrauen in die Europäische Union und mit seinem unverbrüchlichen Bekenntnis zu einem solidarischen Europa ist es uns allen ein Beispiel.

Ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen eine unvergessliche Feier hier im Europäischen Parlament.