Im Folgenden finden Sie die drei Portraits, erstellt von Journalist Herrn Dirk Schümer (FAZ) sowie dem Journalisten Herrn Markus Feldenkirchen (Spiegel) und Journalistin Ulrike Demmer (Hannoversche Allgemeine), die jeweils einige Zeit mit Martin Schulz verbringen konnten und ihn bei seiner täglichen Arbeit begleiteten.
Er poltert gern. Er streitet gern. Er hat Erfolg damit. Manche sehen in Martin Schulz, Präsident des Europaparlaments, die neue große Hoffnung der deutschen Sozialdemokratie. Begegnungen mit einem, der von der Politik besessen ist.
Straßburg/Berlin. „Ja, seid ihr denn bekloppt?“, ruft der Präsident, „das könnt ihr doch mit mir nicht machen.“
Martin Schulz ist gerade zur Tür hereingekommen. Es ist 22 Uhr. Er parkt den Stapel ungelesener Zeitungen vom Morgen und die Mappe mit den Terminen für den nächsten Tag unsanft auf dem Tisch. In der Mappe steht, dass Schulz morgen um 22 Uhr ein Interview gibt und am nächsten Morgen um sechs gleich das nächste. Das ist dem Präsidenten zu viel.
„Ich glaub, ich steh im Wald. Ihr seid alle entlassen!“ Die drei Mitarbeiter blicken ungerührt. An diesem Tisch lieben ihn alle für seine Schnauze. „Ihr seid alle entlassen“, sagt Schulz noch einmal.
Martin Schulz gehört seit mehr als zwanzig Jahren dem Europäischen Parlament an. Seit 2012 ist er Präsident. Im Europawahlkampf war er Spitzenkandidat der Sozialdemokraten und erreichte 27,3 Prozent - ein Plus von 6,5 Punkten im Vergleich zu 2009. Es ist ein Plus, das den Europäer auch in Berlin zu einer Größe macht.
Am Wochenende trifft sich Schulz mit der SPD-Spitze zur Jahresauftaktklausur auf dem Landgut Stober in Nauen. Die Genossen suchen nach Wegen aus dem Umfragetief. Die Partei stagniert bei 25 Prozent. Das schlechte Wahlergebnis von Sigmar Gabriel auf dem Parteitag im Dezember hat die Stimmung nicht verbessert. Wer einen Europawahlkampf so gut führt wie Schulz, müsse eine führende Rolle in Berlin übernehmen, sagen viele Genossen. Mancher hält ihn für den besseren Kanzlerkandidaten. Er selbst hält das für Unsinn. Offiziell.
„Ich kämpfe jeden Tag für Europa, bis zum Januar 2017“, sagt Schulz. Wenn es ginge, würde er Europa noch viel länger treu bleiben. 2017 aber wird die konservative EVP-Fraktion das Amt des Präsidenten besetzen.
Schulz sitzt in einem Hotel in Berlin. Er trägt Jeans und Strickjacke. Vor ihm stehen eine Currywurst und eine Kirschsaftschorle. Es ist Sonntagabend. Sein 30. Hochzeitstag. Seine Frau sagt, die Zahl stimme nicht. Schließlich habe sie ihn in den 30 Ehejahren höchstens 20 Jahre gesehen. Schulz betreibt Politik wie ein Besessener.
Er hat es geschafft, dem Amt des Parlamentspräsidenten Bedeutung und Einfluss zu verleihen. Früher musste der Parlamentspräsident bei Gipfeltreffen der EU-Regierungschefs gleich nach einem kurzen Grußwort den Raum verlassen. Martin Schulz sitzt nun mit am Tisch. Es liegt auch an Verbindungen, die lange zurückführen. „Die frühere dänische Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt zum Beispiel kennt mich, seit sie mal Praktikantin im Europäischen Parlament war“, sagt Schulz. Der französische Präsident François Hollande war Abgeordneter im EU-Parlament, als Schulz Chef der sozialistischen Fraktion war.
In Berlin gehört der Sozialdemokrat seit 1999 zum Parteivorstand, seit 2000 ist er Mitglied im Präsidium. Damit ist er der Dienstälteste in diesen Gremien. Er hat viele Parteichefs kommen und gehen sehen. Wer ihn nach der Zukunft der SPD fragt, blickt in ein ratloses Gesicht. „Die SPD ist in der Großen Koalition das stabilisierende Element“, sagt Schulz, „warum gelingt es uns nicht, das als Tugend zu verkaufen?“ Seine Schultern sind nach unten gesackt. Seine Stimme auch.
In Mainz, an einem Novembernachmittag, ist der Besessene wieder da. Die SPD in Rheinland-Pfalz steht im Wahlkampf. Martin Schulz hilft. Die Juso-Hochschulgruppe hat ihn eingeladen. Er soll in der alten Mensa der Universität einen Vortrag halten. 300 Besucher haben die Jusos erwartet. 600 sind gekommen. Wer keinen Stuhl gefunden hat, hockt im Schneidersitz auf dem Boden. Schulz schlängelt sich durch den Pulk, der die Tür zum Saal blockiert. Als er beginnt zu reden, ist es mucksmäuschenstill. „Es kann doch nicht sein, dass der Wirt in der Eckkneipe in Mainz Steuern zahlen muss, aber Starbucks und Amazon nicht.“ Applaus. „Wir müssen zu den Leuten gehen, dahin, wo es brodelt, wo es kocht. Die Leute sind keine Rassisten, die Leute sind verzweifelt.“ Applaus.
„Der kann so reden, dass auch meine Mutter ihn versteht“, sagt eine Genossin in Berlin. Politik zu vereinfachen, das habe er als Bürgermeister in Würselen gelernt, sagt Schulz. Mancher hält das für platt, aber solange er die Grenze zum Populismus nicht überschreitet, ist Schulz mit sich zufrieden.
In Würselen bei Aachen ist Schulz aufgewachsen. Schon sein Vater, elftes Kind einer Bergarbeiterfamilie, ist Sozialdemokrat. Am Abendbrottisch wird über Politik diskutiert. Schulz träumt eher von einer Fußballerkarriere. Um Zeit für den Sport zu haben, verlässt er das Gymnasium nach der mittleren Reife und beginnt eine Buchhändlerlehre. Ein Kreuzbandriss beendet den Traum. Schulz beginnt zu trinken. Er ist 24, denkt an Selbstmord. Doch er fängt sich. Wird erst Buchhändler und dann Politiker. Mit 31 Jahren ist er der jüngste Rathauschef in Nordrhein-Westfalen.
„Der Martin ist einfach eine Persönlichkeit“, sagt Sigmar Gabriel. Wenn der SPD-Chef, eben noch etwas mürrisch, über Martin Schulz redet, wirkt er wie angeknipst. „Der kann einen Saal rocken, bei dem springen die Leute auf.“ Gabriel und Schulz können gut miteinander.
„Es gibt Leute in der Partei, die bitten Schulz, er möge doch mal mit dem Parteichef reden, wenn der gerade wieder mal grantig war“, sagt ein Genosse. Gabriel seinerseits bittet Schulz um Rat. Gerne auch frühmorgens. Vor dem Arbeitgebertag kürzlich in Berlin gab es noch Gesprächsbedarf. Da kam Gabriels erste SMS um 5.23 Uhr auf Schulz’ altem Nokia-Handy an.
Es ist Schulz, der auf dem Parteitag versucht, Gabriel davon abzuhalten, auf die Vorwürfe der Juso-Chefin Johanna Uekermann zu reagieren. Erfolglos. Als das schlechte Wahlergebnis des Parteichefs verkündet wird, ist Schulz geschockt von so viel Illoyalität. Es sieht fast so aus, als habe er Tränen in den Augen. Anders als Gabriel hat Schulz nur wenige echte Gegner.
„Bonjour“, grüßt der Präsident im Vorbeigehen fünf Putzfrauen, die vor den Aufzügen warten. Die beiden Beamten an der Sicherheitsschleuse des Parlamentsgebäudes in Straßburg begrüßt er mit Handschlag. Einer brünetten Dame im Kostüm legt er im Vorbeigehen väterlich die Hand auf die Schulter. „Das war die Gattin des italienischen Sprechers“, erklärt er. Die gute Laune täuscht. Die Anschläge von Paris liegen gerade zwei Tage zurück. Martin Schulz ist in Sorge um sein Europa.
„Jetzt will Marine le Pen die nationalen Grenzen schließen?!? Kein europäisches Land wird diese Krise allein bewältigen können. Marine le Pen erzählt den Leuten Märchen“, schimpft Schulz. Inzwischen führt er - mit einer dicken Schicht Puder gegen die dunklen Ringe unter den Augen - ein Schaltgespräch mit dem Fernsehsender Arte. „Ich kann den Blödsinn von den geschlossenen Grenzen nicht mehr hören. Hören Sie mal, dafür ist mir meine Zeit zu schade.“
Wenig später steht der Präsident im Stau. Im Fond seiner Dienstlimousine lehnt er den Kopf gegen das Fenster und schließt die Augen. „Kinners, ich muss mal kurz ein Nickerchen machen“, sagt Schulz. Auf der Europabrücke zwischen Kehl und Straßburg gibt es wieder Grenzkontrollen. Wenig später winkt ein französischer Polizist den schwarzen Wagen rechts an den Straßenrand. „Wenn ich Polizist wäre und eure Gesichter da vorne sähe, ich würde euch auch kontrollieren“, ruft Martin Schulz vom Rücksitz nach vorn.
Dann springt er selbst aus dem Wagen und erklärt dem Polizisten, wer er ist und dass er jetzt wirklich weitermüsse. Martin Schulz lässt sich nicht bremsen. Nicht von Grenzschützern auf der Europabrücke. Und auch nicht von schlechten Umfragewerten der SPD.
Von Ulrike Demmer. Ein Artikel in der Hannoversche Allgemeine, http://www.haz.de
Was dem Präsidenten des Europäischen Parlaments an Macht fehlt, um Europa zu retten, gleicht Martin Schulz durch sein Gespür für Symbolik aus. Porträt eines Unermüdlichen. Ein Artikel der Franfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), von Dirk Schümer.
„Der Präsident!" - Wenn der Saaldiener diese Worte ins weite Saalrund des Europäischen Parlamentsaals von Straßburg ruft und Martin Schulz so unfeierlich wie möglich hinter dem Mann mit Frack und Goldkette zu seinem Sitzplatz eilt, dann wird wohl nur deutschen Beobachtern klar, dass es deutsche Sozialdemokraten in ähnlich prominenter Funktion sonst nirgendwo mehr gibt. Martin Schulz ist hier im Parlament der erste Mann und der letzte Mohikaner zugleich. Als Sozialdemokrat ist der gewählte Chef der europäischen Legislative der einzige Verbliebene, der seit Kanzler Schröder und Kommissar Verheugen im internationalen Konzert mitspielen darf. Unten in den halb gefüllten Rängen für 754 Abgeordnete dreht sich die Debatte gerade um Ungarn. Die Übersetzer aus dem Ungarischen haben heute mächtig zu tun.
Martin Schulz folgt, wie das seinem Amt entspricht, jedem noch so erbosten Beitrag gegen den Ministerpräsidenten Orbán, der in Budapest das Land zu einem Ständestaat mit mangelhafter Gewaltenteilung umbauen will. Die Redezeiten sind je nach Fraktionsgröße auf die Sekunde bemessen. Kurzes Bimmeln mit der Präsidentenglocke, wenn der Countdown endet, heftiges Bimmeln, wenn länger überschritten wird. Schulz hat merklich Spaß an der eigentlich traurigen Debatte über entlassene Richter, gedeckelte Medien und eine selbstherrliche Budapester Regierung mit Zweidrittelmehrheit. Denn hier erweist sich Europa, genauer das offene Wort im Parlament und die drohenden Sanktionen gegen Ungarn, als letzter Anker der Rechtsstaatlichkeit in einem heiklen Moment nationaler Demokratie.
Da wird klar, was das Europäische Parlament - diese riesige Kompromissfabrik - sein könnte, aber im Bewusstsein der Europäer noch lange nicht ist: eine Volksvertretung und keine Völkervertretung. Denn während Schulz seine erregten Redner bändigt und versucht, „die Emotionen zu kanalisieren", bilden sich die merkwürdigsten Allianzen. Der sozialdemokratische Fraktionschef Swoboda aus Österreich unterstützt die christdemokratische Justizkommissarin Reding aus Luxemburg, die danach wieder von ihrem Landsmann und Parteifreund Engel scharf angegriffen wird, weil dessen Fraktion ihren Verbündeten Orbán nicht fallenlassen will.
Hier stehen nicht die Ungarn gegen den Rest der Welt, sondern der europäische Rechtsstaat, für dessen Werte die EU überhaupt gegründet wurde, ringt mit nationalem Eigensinn. Wenn das nur alles nicht so verflixt kompliziert wäre! Was von dieser alles andere als unwichtigen Debatte jenseits der Nationen, Sprachen und Parteien kommt bei den Europäern an? Kommt jenseits nationaler Standpunkte überhaupt etwas an?
Schon der öffentliche Schein, der Schulz als würdigen Zeremonienmeister einer überkomplexen Politikerversammlung vorführt, trügt gewaltig. Was keiner sieht: Irgendwo auf den labyrinthischen Fluren des Parlamentsgebäudes in Straßburg sitzt gerade Viktor Orbán und hört sich die Gardinenpredigt, er beschädige massiv die Rechte seiner Bürger, ungeduldig an. Martin Schulz muss ihn später im Dialog überzeugen, erst im Mai oder Juni zu den Abgeordneten zu sprechen und seinen Kurs zu verteidigen, weil erst dann feststeht, ob die EU die Mitgliedschaft Ungarns auf Eis legen wird.
Klar, man könnte den Präsidenten des größten und verwickeltsten Parlaments der Welt auch rein zeremoniell interpretieren, mit der Bimmel in der Hand, mit allerlei Händeschütteln und als milder Padrone noch der abseitigsten Regional- und Kleinparteien dieses ach so vielfältigen Kontinents. Martin Schulz aber denkt gar nicht daran, es dabei zu belassen. An solch einem hektischen Sitzungstag in Straßburg, für den Politiker, Stäbe und Logistiker eigens von Brüssel ins Elsass transportiert werden mussten, wird im fünfzehnten Stock, in der Präsidentenetage, große Politik gemacht.
Während die Abgeordneten weiter ihre Tagesordnung abarbeiten und gegen Mittag die Zählmaschine die Stimmenverhältnisse wiedergibt wie schwankende Börsenkurse, sitzt bei Schulz der Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi. Dass der in der EuroKrise durch massiven Ankauf von Staatsanleihen tief in die Wirtschaftspolitik, ja in die Ersparnisse aller Bürger eingreift, ist seit Monaten der Orgelton europäischer Befindlichkeit. Doch wo ist der Ort, diese Zentralbank jenseits des Zentralstaats wieder einem Gesetzgeber und einer Volksvertretung verantwortlich zu machen? Wo, wenn nicht in Straßburg? Genau diese Unklarheit, was die EU eigentlich sei - ein Staatenbund? eine Zollunion? ein Superstaat? -, gibt Schulz den Raum für sein rastloses Sondieren und Netzwerken in der leidigen Dauerkrise.
Ohne dass es - wie meist - die europäischen Bürger groß mitbekommen hätten, befindet sich die Institution im heißen Verfassungskampf - und Martin Schulz ist auf europäischer Seite der Hauptstratege. Das Budget der EU wurde von den nationalen Regierungschefs gekürzt, das Europäische Parlament hat diesen Entwurf trotz massiven Drucks aus den nationalen Parteien zurückgewiesen. Dass die Regierungschefs ihre Steckenpferde wie französische Agrarsubventionen, deutsche Industriesubventionen oder britische Kürzungsdiktate cool durchsetzten, dafür aber bei Forschung, Studienförderung, Innovation und Infrastruktur massiv kürzen wollen - dieser Widersinn ficht Merkel, Cameron, Hollande offenbar nicht an. Ein paar Minuten später eilt Martin Schulz zum luxemburgischen Erbgroßherzog und seiner Gemahlin, die dem Parlament in Straßburg einen Höflichkeitsbesuch abstatten.
Gewiss wurde das junge Paar haarklein vorbereitet auf die Fältelungen und Quisquilien europäischer Politik. Aber sogar bei Orangensaft und Mineralwasser gelingt es Schulz, prägnante Formulierungen für den historischen Prozess zu finden, den die EU gerade durchläuft: Man sei gegenüber den Regierungen, die den Etat diktierten, kein Bittsteller, sondern die Regierungen müssten sich die Zustimmung des Parlaments verdienen. „Schließlich sind wir hier nicht mehr unter Kaiser Wilhelm II." Jeder, vielleicht gerade ein Aristokrat wie Erbgroßherzog Guillaume, versteht, was Schulz damit meint: Die exekutive EU-Kommission wurde nicht gewählt, sondern bei einem Gipfeltreffen ausgekungelt. Und nur das Europäische Parlament kann diese demokratische Lücke im System füllen.
Wieder ein paar Minuten und eine pathetische und kluge Grundsatzrede des irischen Präsidenten Higgins weiter, sitzt Schulz mit seinem Ehrengast beim Mittagessen und führt in der Tischrede - frei gesprochen auf Englisch, wahlweise Französisch, sein Niederländisch bleibt heute unbenutzt - eine Vision aus: Bei der kommenden Europawahl im Mai 2014 werden die Parteien erstmals einen übernationalen Kandidaten aufstellen. Wer europaweit am meisten Stimmen bekommt, wird dann EU-Kommissionspräsident: das gewählte Gesicht Europas. Das gab es noch nie. Schulz erwartet sich dadurch keinen Raketenschub aus dem medialen Halbschatten. Doch der erste Schritt zu einer transnationalen Demokratie werde so endlich getan. Der irische Präsident, der in seiner Freizeit Gedichte schreibt und sich liebend gern in wohlklingendem Gälisch ergeht (auch dafür gibt es Übersetzer im Parlament), hört es mit Wohlwollen. In den größeren Nationen macht man sich selten eine Vorstellung davon, dass die EU für einen Staat wie Irland keine Freihandelszone darstellt, sondern Wahrheit gewordene Polit-Utopie nach Jahrhunderten historischen Albtraums als Kolonie.
Schulz ist freilich einer der wenigen, vielleicht der einzige Europapolitiker, der kein Hehl aus der systemischen Gefährdung des Projektes macht. Natürlich könne Europa auch scheitern, sagt er an diesem Straßburger Tag gleich mehrmals. Und dieser Hinweis auf den Totalschaden ist vielleicht seine stärkste Waffe. Denn wenn ein David Cameron seine Popularität auch am wachsenden Euroskeptizismus ausrichtet, wenn Angela Merkel penibel den naheliegenden Eindruck deutscher Finanzierung für die Pleite der Südstaaten zu verwischen sucht - wie stellen sich Widersacher den befriedeten Kontinent ohne Europäische Union denn vor? Schulz, der belesene Buchhändler, betätigt sich gegenüber dem irischen Dichterpräsidenten als politischer Linguist: Wenn Politiker beteuern, sie verträten die nationalen Interessen „gegen Brüssel", dann bedeute das doch: Europa greift ständig unsere Interessen an. Für Schulz ist genau das Gegenteil wahr. Nur müssen die Regeln für eine europäische Demokratie weiter neu erfunden werden.
Während des Ritts den Sattel zu wechseln - für den hyperagilen Schulz, seit bald fünfzehn Jahren europäischer Abgeordneter, scheint genau dies den Reiz des Geschäfts auszumachen. Durch die Agenda, die an solch einem Vollversammlungstag auch noch ein Gespräch mit dem äthiopischen Ministerpräsidenten, dem französischen Außenminister und diverse Ausschusssitzungen bereithält, schneidet er wie ein heißes Messer durch die Butter - weiter, weiter, immer weiter.
Am Abend, wenn sich die Kolonne des Parlaments über die Straßburger Restaurants und Hotels verteilt, hat das Parlament ganz nebenbei auch beschlossen, wie es mit dem Emissionshandel für CO2-Ausstoß weitergehen soll, nämlich langsamer. Wie am morgen zum Thema Ungarn, als Parteien keine Rolle mehr spielten, so haben auch hier die europäischen CDU-Abgeordneten gegen ihren nationalen CDU-Minister Altmaier gestimmt. Doch es gehört zum europäischen Alltag, dass in den Nachrichten der deutsche Minister die Deutungshoheit über diese Schlappe bekommt.
Tags darauf beim sehr frühen Frühstück mit sehr deutschem Kaffee in seinem Büro ist Martin Schulz schon wieder unter Strom. Gerade diese Übersetzung europäischer Politik in nationale Taktik ist die schwache Flanke einer Organisation ohne einheitliche sprachliche Öffentlichkeit. Einen „Scheinriesen" nennt Schulz Europa in Anlehnung an Michael Ende: aus der Ferne mächtig wirkend, aber aus der Nähe oft kleinlaut und schlapp.
Aber wie sollen in einer Globalwirtschaft Fragen wie Umweltschutz, Energie, Fischerei, Menschenrechte, Kriminalität, Freihandel denn auf dem Maßstab von Luxemburg, Finnland oder Portugal gelöst werden? Schulz nimmt darum die Herausforderung an, wie ein Jongleur mit etlichen Bällen gleichzeitig zu hantieren. Schon vor dem Sitzungsbeginn um neun ist der Präsident im Kontakt mit Kollegen von der italienischen Linken, weil dort gerade im Chaos der Regierungsbildung deren Partei zerbricht. Dass etliche Mächtige in den jeweiligen Hauptstädten auch Parlamentarier in Europa waren oder sind, kommt hier ausnahmsweise dem europäischen Netzwerk zugute. Straßburg ist keine Zentrale, aber Knotenpunkt.
Am Donnerstagnachmittag, die Sitzungswoche ist kaum vorüber, sitzt Schulz mit Akten und ständig klingelndem Telefon in einer Limousine hinter ständig heulenden Polizeisirenen zum Frankfurter Flughafen, um gerade noch die Linienmaschine nach Warschau zu erwischen. Am frühen Abend gibt es im Sejm bereits harte Verhandlungen mit der Parlamentspräsidentin Ewa Kopacz. Denn in Polen, wo Bauern und regionale Wirtschaft von europäischen Töpfen profitieren, hat man berechtigte Angst vor einem blockierten EU-Haushalt. Schulz wirbt zwei Tage lang in weiteren Gesprächen mit Polens Regierungsschef, Präsident, Senatspräsident zäh für einen Kompromiss, die Kürzungen zu begrenzen, die Finanzierung womöglich etwas zu strecken und aus Parteitaktik nicht auch noch an der europäischen Zukunft zu sparen. Denn die Gelder für Polen könnten beim Streichkonzert der Westeuropäer als Erste unter den Tisch fallen.
Doch der Besuch in Warschau gilt auch Europa in einem tieferen Sinn. Am Abend sitzt Schulz beim Festkonzert der israelischen Philharmonie zu Ehren der Kämpfer des Warschauer Ghetto-Aufstandes vor genau 70 Jahren. Dass Zubin Mehta ausgerechnet hier den deutschen Komponisten Ludwig van Beethoven dirigiert und dass ein Deutscher ganz selbstverständlich das geeinte, friedliche Europa in Polen repräsentieren kann, muss man als Wunder der jüngeren Geschichte begreifen - oder als Leistung der EU.
Die Polen - wie stets das wunderbare Nachbarvolk, das Deutschland gar nicht verdient hat - richten am kühlen, regnerischen Freitagvormittag am Mahnmal der Ghettokämpfer, wo einst Willy Brandt kniete, eine ergreifende, würdige Gedenkveranstaltung aus. In Gestalt von Simcha Rotem erzählt in seiner Rede einer der letzten Überlebenden, wie er nach dem Tod der meisten Kameraden durch die Kanalisation ins brennende Ghetto zurückstieg und anfangs nurmehr Tote fand: „Bin ich der letzte Jude in Warschau?"
Am späten Nachmittag, als Martin Schulz tatsächlich noch eine Stunde freimacht für ein Gespräch mit Studenten einer Wirtschaftshochschule, greift er sofort den unglaublichen Humanismus Rotems auf: Dieser Mann, in aussichtsloser Todesnähe, habe den Mut der polnischen Helfer bewundert, die für ihn ihr Leben riskierten. So sieht ein Held, ein Vorbild aus. Und dann skizziert Schulz vor den jungen Studenten, wie vorher mit den Präsidenten und Premiers, seine europäische Vision, antwortet auf Fragen, streitet sich um Euroskeptizismus.
Am nächsten Morgen ist der Parlamentspräsident bereits in Auschwitz, und da sagt er kaum noch etwas, sondern hört den Erklärungen des Direktors der Gedenkstätte lange zu, bevor er Kameras und Mikrofonen mitteilt, an diesem Nullpunkt der Menschheitsgeschichte trage auch das Europäische Parlament Verantwortung für die Finanzierung. In Deutschland macht man sich über den Symbolwert keine Vorstellung, dass hier ein Deutscher für die humanen und europäischen Werte einsteht, nachdem vor nicht langer Zeit noch die Wehrmacht und die SS ihr Weltbild mit Millionen Opfern in Europa durchsetzen wollten.
Am Mahnmal am Ende der Rampe von Birkenau legt Schulz gemeinsam mit Jugendlichen einen Kranz nieder - und ein Blick auf die Sprachen der Inschriften, die quasi komplett mit den Amtssprachen des Europäischen Parlaments identisch sind, verrät: An diesem furchtbaren Ort liegt eine tragische Gründungsstätte der europäischen Idee.
Während Schulz in der Begegnungsstätte mit den Jugendlichen, die in Auschwitz ehrenamtlich arbeiten, ein paar Wurstbrote isst, erzählt er von seinem Großvater, der als strenger Katholik stolz darauf war, niemals „Heil Hitler" gesagt zu haben. Daher muss wohl die Sturheit und Zähigkeit des Enkels kommen, wenngleich es in Würselen bei Aachen sicher eine Überraschung war, dass der Sprössling ausgerechnet der SPD beitrat. Die pazifistischen Jugendlichen schauen groß, als Schulz ihnen en passant sagt: Er würde in vergleichbarer Lage gegen die Nazis zur Waffe greifen. Und man glaubt es diesem freimütigen Kämpfer aufs Wort.
Merkwürdig sind die Wege der Politik. In der Existenzkrise Europas bilden sich derzeit ähnliche Konstellationen heraus wie in der heroischen Gründungsphase nach 1945. Nur dass die skeptische, die nationale Rolle des Ostdeutschen Kurt Schumacher heute zunehmend von einer ostdeutschen Christdemokratin übernommen wird. Und der europäische Antreiber kommt wieder aus dem Rheinland; nur ist dieser Martin Schulz die Fortsetzung Adenauers mit sozialdemokratischen Mitteln. Und auch die Dualität der Parteien und ihrer Leader kehrt in der Euro-Krise, die doch alle Alternativen zu vernichten schien, wundersam zurück: Die Kanzlerin hat tatsächlich einen veritablen linken Gegenspieler. Steinbrück heißt er allerdings nicht.
Quelle: F.A.Z. | http://www.faz.net/
Der Deutsche Martin Schulz spielt eine zentrale Rolle in Europa. Als Präsident des Straßburger Parlaments will er seiner Institution mehr Macht und vor allem größere Anerkennung verschaffen. Und sich selbst. Ein Spiegel-Portrait, von Markus Feldenkirchen.
Am 26. Juni 1980 sitzt Martin Schulz nachts um vier am Schreibtisch seiner Wohnung in Würselen und denkt daran, sich umzubringen. Er ist sternhagelvoll heimgekommen, dort hat er sich noch eine halbe Flasche Martini reingezogen. Er ist 24 und ohne Arbeit, Freundin, Lebensmut, dafür hat er Schulden und ein Alkoholproblem. „Es ging nix mehr", wird er später erzählen. „In dieser Nacht wollte ich Schluss machen."
Er ruft seinen älteren Bruder Erwin an. Um Abschied zu nehmen? Ein Hilferuf? Er weiß es selbst nicht. Gegen sechs verlässt Schulz seine Wohnung und läuft zu Erwin. Es ist der Versuch, seine Sucht hinter sich zu lassen – und die größte Herausforderung seines Lebens.
32 Jahre später, am 17. Januar 2012, steht Martin Schulz am Rednerpult des Europäischen Parlaments in Straßburg. Gerade wurde er zum Präsidenten von 754 Abgeordneten aus 27 Ländern gewählt. Sie sollen die Interessen von 500 Millionen Bürgern durchsetzen und werden doch meist belächelt. Das EU-Parlament wirkt neben den anderen farblosen Institutionen, dem Rat der Staats- und Regierungschefs und der Kommission, wie die graue Maus Europas. Schulz will ihm endlich Würde verleihen, es geht um Selbstbewusstsein und um Macht.
„Entscheidungen, die uns alle betreffen, werden von Regierungschefs hinter verschlossenen Türen getroffen", sagt er. „Das ist für mich ein Rückfall in einen lange überwunden geglaubten Zustand der europäischen Politik: Es erinnert an die Zeit des Wiener Kongresses im 19. Jahrhundert." Das Parlament werde dem nicht länger zusehen. Ein Hauch von Revolution weht durch Straßburg.
„Ich werde kein bequemer Präsident sein", verspricht er. Er werde alles geben, „das verlorengegangene Vertrauen der Menschen in den europäischen Einigungsprozess zurückzugewinnen. Ja, ich werde versuchen, wieder Begeisterung für Europa zu wecken!"
Es ist keine Antrittsrede, sondern eine Kampfansage. Schulz will Europa aufrüsten, es umkrempeln, demokratischer machen. Es wird die zweite große Herausforderung seines Lebens.
Die Tische sind gut besetzt, aber kein Gast erkennt ihn. Seit 18 Jahren gehört Schulz dem Europäischen Parlament an, er ist der wichtigste Deutsche in Brüssel, aber in der Heimat ist das kaum bekannt. Niemand ärgert das mehr als Schulz.
„Wo soll ich sitzen?", fragt er. „Unter dem Ochsen?" Er zeigt auf ein Gemälde an der Wand. „Na gut, passt ja."
Die Frage ist, ob der SPIEGEL ihn ein Jahr durch seine Präsidentschaft begleiten darf. Dann ließe sich vielleicht sagen, ob seine Ziele realistisch sind. Ob sich Europa tatsächlich verändern lässt. Schulz willigt ein. Es gebe nur ein Problem. Er sei, nun ja... etwas impulsiv. Auf so schöne Ausdrücke wie „Pfeifenheini", „Rindvieh", „dumme Gans" oder „Armleuchter" in Verbindung mit hohen EU-Repräsentanten und Regierungschefs muss daher in diesem Text verzichtet werden. Auf „Eierkopp" hingegen nicht.
Schulz sitzt unter dem Ochsen und bestellt Ente, dazu Apfelschorle. Vier Dinge will er verändern. Sein Daumen klappt hoch. Als Parlamentspräsident müsse er endlich an den Sitzungen des Rats teilnehmen. Man müsse an allen Gremien zur Euro-Rettung beteiligt sein. Zeigefinger. Die Regierungschefs müssten viel öfter nach Straßburg kommen und sich dort erklären. Mittelfinger. Und dann brauche man Aufmerksamkeit. „Wir vertreten 500 Millionen Menschen, aber wir haben eine Wahrnehmung wie der Kreistag von Pinneberg." Vier Finger stehen in der Luft.
„Die Mächtigen müssen Angst haben vor dem Parlament. Sonst machen wir Krawall. Ich schwitze den Machtanspruch ja aus jeder Pore." Wieder ein Hauch von Revolution, jetzt in der Pfistermühle. Beim Nachtisch erzählt er von seinem ersten EU-Gipfel vor vier Tagen, seiner ersten Rede vor den Staats- und Regierungschefs. Es ging darum, wer den Fiskalpakt aushandeln darf, die Schuldenbremse für Europa. Das Parlament müsse einbezogen werden, verlangt Schulz. „Durch uns erhalten Entscheidungen der EU ihre demokratische Legitimation."
Bei bisherigen Gipfeln musste der Parlamentspräsident gleich nach seiner Rede den Raum verlassen. Sie war nicht mal ein Impulsreferat, eher ein Grußwort. Nach 20 Minuten waren die Mächtigen unter sich. „Bei mir gab es sofort acht Wortmeldungen", sagt Schulz. Merkel und Sarkozy, alle Wichtigen. „Ich war 'ne gute Stunde drin. Das gab's noch nie – eine echte Debatte!" Es herrscht die Euphorie des Anfangs, Veränderung scheint möglich. Über die Regierungschefs sagt er: „Sie haben mich gewogen und für schwer genug befunden."
Schulz, der kein Studium, kein Abitur hat, fühlte sich anderen lange Zeit unterlegen. Heute, sagt er, sei das Gefühl der Minderwertigkeit dem Stolz gewichen, es auf eigenem Wege geschafft zu haben.
„Ach, Moment, mein Hippo", ruft Schulz. Er kramt in seiner Tasche nach einem Plastik-Nilpferd und stellt es auf die Armlehne. „Mein Talisman. Das weitgereisteste Hippo aller Zeiten." Für die Passagiere der Business Class ist es ein unruhiger Flug nach Athen. „Armin, Armin", ruft Schulz, wann immer sein Sprecher Armin Machmer helfen soll. Er bezeichnet sich selbst als Perpetuum mobile, als eine Maschine, die, einmal in Gang gesetzt, ständig in Bewegung bleibt. Als Armin sich ein Frühstück servieren lässt, ruft er laut: „Der Eierkopp kriegt nichts. Dat is ein Fresskopp!" Die Leute zucken. Schulz redet oft so mit seinen Mitarbeitern, nichts ist böse gemeint, sein Lieblingsspruch lautet „Ihr seid alle entlassen!" In Wahrheit sind sie eine verschworene Gemeinschaft.
Schulz ist der erste prominente EU-Politiker, der in diesem Jahr nach Griechenland reist, seine Konkurrenten, Kommissionschef José Manuel Barroso und Ratschef Herman Van Rompuy, waren noch nicht da. Am Abend soll er eine Rede vor dem Parlament halten. Das Vorhaben sei nicht risikofrei, es könne zu Tumulten kommen, sagt Schulz. „Aber ich kann nicht den Anspruch erheben, Einfluss zu nehmen und dem Parlament eine angemessene Rolle zu verschaffen, ohne mich ins Getümmel zu stürzen." Es gehe beim Kampf um ein neues Europa ja nicht nur um Inhalte. „Du musst heutzutage inszenieren." Seine Hand rührt in der Luft.
Vor dem Parlament in Athen wird wieder protestiert, es brennen EU-Flaggen. Es gebe derzeit eine irre Situation in Europa, sagt Schulz auf dem Weg ins Parlament. 26 von 27 Ländern seien für zusätzliche Hilfen für Griechenland. Eine sei dagegen. Er meint Angela Merkel. Über Merkel kann er fluchen wie ein Rohrspatz und tut das fast täglich. Ebenso oft telefoniert er mit ihr, er ist stolz, ihre Handy-Nummer zu haben. „Die anderen wissen, dass ich sie habe." Das hilft.
Im Parlament hält Schulz eine kluge, leidenschaftliche Rede, er sagt: „Nie darf die Hilfe des einen die Würde des anderen in Frage stellen." Es ist die Rede, die sich die anderen Politiker Europas bislang nicht zu halten trauten.
Danach lädt ihn der Präsident zum Essen ein. Bevor sich Schulz an den Tisch setzt, fragt er Armin, ob die „Tagesschau" etwas gebracht habe. Offenbar nicht, er ist enttäuscht. Auf der Rückfahrt sagt Armin, das „heute journal" habe eine Eloge gesendet. „Na bitte", sagt Schulz. „Kinder, wisst ihr was? Der Martin macht jetzt Bubu." Am Hotelaufzug verabschiedet er seine Mitarbeiter. „Wenn ihr noch was hört von wegen Medienberichte, schickt mir unbedingt ‚'ne SMS. Gute Nacht!"
In Schulz' Wahlkreisbüro sitzt ein Professor aus Aachen, der ein Buch herausgeben will: „Klassiker des Europäischen Denkens". Ob er zwei Beiträge über „Koryphäen Europas" beisteuern könne? „Bin ich da auch drin?", fragt Schulz. Im Nebenraum wartet ein alter Freund, der heute sein Heimatbüro leitet. Er erzählt, wie er 1994 das erste Mal mit ihm nach Straßburg gefahren sei. Da habe sich der Martin im leeren Sitzungssaal auf den Stuhl des Präsidenten gesetzt und gesagt: „Hier sitze ich eines Tages."
Die Frage ist, wo all das herrührt, dieser unbändige Ehrgeiz, die ewige Sorge, zu kurz zu kommen? Der Freund zuckt mit den Schultern. Nach der Sprechstunde spaziert Schulz durch die Innenstadt von Würselen. Hier in der Nähe saß er in den frühen Stunden des 26. Juni 1980 mit der Flasche Martini, als ihn der Lebensmut verließ.
Als Jugendlicher spielte er als linker Verteidiger bei Rhenania 05 Würselen und träume davon, Fußballprofi zu werden. „Er war nicht gerade ein Filigrantechniker", sagt sein früherer Mannschaftskollege Franz-Josef Hansen. „Aber er war die Lokomotive, die uns alle mitgerissen hat." Man komme zwar aus dem kleinen Würselen, habe der Martin den Leuten eingebläut, aber man dürfe keine Angst vor den großen Vereinen haben. So erkämpfte seine Mannschaft aus der Provinz sogar die westdeutsche Vizemeisterschaft der B-Junioren, im Finale unterlag sie Schalke 04. Das Ziel, Prof zu werden, schien zum Greifen nah. Er wohnte neben dem Sportplatz und hatte nichts als Fußball im Kopf. Nach der elften Klasse musste er die Schule verlassen, weil er zweimal sitzengeblieben war.
Dann verletzte er sich auf einem Rasenplatz in Würselen schwer am Kniegelenk. Er ließ sich zum Buchhändler ausbilden und hatte doch das Gefühl, seine Chance auf Anerkennung vertan zu haben. Die Leere in sich füllte er mit Alkohol. Er zog nach Bonn und arbeitete im „Buchladen 46". Dort verliebte er sich in eine Kollegin, bald träumten sie von einem Leben zu zweit. Irgendwann verließ ihn die Frau, weil es mit ihm, dem Dauerbetrunkenen, nicht auszuhalten war. Er zog in die kleine Wohnung in Würselen und glaubte, alles verloren zu haben, was ihm einmal wichtig gewesen war.
Schulz ist einer der Ersten an diesem Tag, er trägt einen grauen Anzug mit roter Krawatte. Am Eingang des Saals steht Ratschef Van Rompuy und empfängt die Spitzen Europas wie ein Hausbesitzer seine Gäste zum Essen.
Vorher hat Schulz erzählt, dass er „so einen Hals" habe. Um künftige Krisen zu vermeiden, wurde eine Vierergruppe beauftragt, einen Masterplan zur Zukunft Europas zu entwickeln. Mitglieder sind die Chefs des Rats, der Kommission, der Zentralbank und der Euro-Gruppe. Das Parlament ist nicht vorgesehen. „Die haben mich wieder ausgeschlossen", sagt Schulz. „Eine Unverschämtheit! Wenn Sie mich fragen, hat das die Merkel veranlasst."
Das tiefere Problem heißt Krise. Um den Euro zu retten und die Verschuldung in den Griff zu bekommen, haben die Regierungen immer neue Maßnahmen und Gremien entwickelt, an denen weder die nationalen Parlamente noch das Europaparlament beteiligt sein sollen.
Krisenzeiten sind Belastungsproben für die Demokratie. In der Krise muss man schnell und entschieden handeln, Parlamente aber wollen gründlich sein, diskutieren, sie haben ihre Verfahren, Fristen, Rituale, das macht sie langsamer. Sie wirken wie Störenfriede der Effizienz. Bislang ist offen, wie viele Krise die Demokratie verträgt. Aber wenn Europa nicht aufpasst, könnten sich die autoritären Staaten Asiens oder der Golfregion bald als überlegene Modelle erweisen.
Bevor die Sitzung beginnt, plaudert Schulz mit Frankreichs Präsident Hollande. Er ist froh, dass sein Freund François gerade Nicolas Sarkozy besiegt hat, sie kennen sich lange. Schulz hat über Jahre ein Netzwerk aufgebaut und Kontakte zu Politikern aus allen Ländern gepflegt. Aus Kontakten wurden Regierungschefs und Partner für seinen Kampf. Er selbst sagt: „Wenn du so lange in Europa dabei bist wie ich, kennst du jedes Schwein."
Er nimmt neben dem Ratspräsidenten Platz. „Es ist nicht akzeptabel, dass die einzig direkt gewählte EU-Institution, die Stimme der Bürgerinnen und Bürger in Europa, von der Debatte über die Zukunft der EU ausgeschlossen wird", warnt er die Regierungschefs. Er habe kein Verständnis dafür, dass die Krise ausgenutzt werde, um im Herzen des neuen Europas einen Autoritarismus zu installieren. „Der Notfall wird zur Regel erklärt."
Wenn das so weitergehe, werde er beim nächsten Gipfel stur sitzen bleiben, sagt er später mal. „Und wenn die mich rausschmeißen, setz ich mich vor die Tür mit einem Schild: ‚Das ist das Demokratieverständnis von Angela Merkel!"
Die Schwarzkopf-Stiftung verleiht ihm an diesem Nachmittag ihren Europapreis. „Er ist der Einzige", so die Laudatio, „der mit Europa den Saal rocken kann." Nach der Ehrung kommt eine Frau in seinem Alter auf ihn zu. Sie hat im Publikum gesessen, nun will sie gratulieren. Er erkennt sie zunächst nicht. Erst als sie ihren Namen nennt, erinnert er sich. Sie ist seine große Liebe aus Bonn, ein Wiedersehen nach über 30 Jahren.
Nach der Trennung hing Schulz in Würselen rum. Er schämte sich, weil er die Finger nicht vom Alkohol lassen konnte. Und trank dann aus Scham. Die Jusos, denen er sich mit 19 angeschlossen hatte, setzten ihn als Anführer ab. Erwin, der Bruder, ist Arzt. Am Morgen nach der Nacht, in der Schulz beschlossen hatte, sein Leben zu ändern, gab er ihm Pillen, falls der Entzug zu heftig würde. Bald darauf begann Schulz eine viermonatige Therapie in einer Klinik. Ein Freund schrieb ihm: „Du hast jetzt die einmalige Chance, Dich nur mit Dir selbst zu beschäftigen. Nutze sie!"
Schulz lernte über sich, dass er zur Selbstüberschätzung neigt. Er steckte sich zu hohe Ziele, wollte immer mit den Großen mitspielen, auch in der lokalen Politik, obwohl ihm dazu noch die Fähigkeiten fehlten. „Ich musste lernen, bescheidener zu werden", sagt er heute. Und dass man sich Erfolge erst erarbeiten muss, bevor man sie einfordern kann. Sie sei stolz auf ihn, sagt die Frau, die ihn einst an den Alkohol verlor.
In einem antiken Zimmer soll der Ablauf seines Irland-Besuches besprochen werden. Schulz beugt sich über den Tisch und liest: „Erster Punkt: Arrival Dublin Airport. Das ham wir schon mal geschafft." Später soll er eine Rede im irischen Parlament halten. „Wissen Sie, wer das als letzter Gast durfte?", fragt Schulz. Geheimnisvolle Pause. „Bill Clinton!" Seine Augen leuchten. „Das ist ein starkes Signal! Das zeigt das Upgrading des Parlaments."
Dann kommt er wieder auf seine Lieblinge zu sprechen, die Staats- und Regierungschefs. „Bei denen kannst du dich auf nix mehr verlassen. Weil irgendeine von den 27 Regierungen immer im Wahlkampf ist und glaubt, irgendeinen Scheiß erzählen zu müssen."
Ein Beispiel ist der Ire Enda Kenny, mit dem er später vor die Presse treten wird. Die meisten EU-Mitgliedstaaten favorisieren eine Finanztransaktionssteuer, um die Spekulanten an den Kosten der Krise zu beteiligen, aber Kenny spricht sich dagegen aus, die Briten wollen schließlich auch nicht mitmachen. Beide Länder haben der Finanzindustrie eine attraktive Heimat geboten. Dass Irland wie kaum ein anderes Land von der EU profitiert hat, scheint Kenny egal zu sein. Die EU ist für viele Staaten wie der Geldspeicher von Dagobert Duck, aus dem man möglichst viel mitnehmen möchte, ohne selbst etwas zu geben.
Solches Denken bringt Schulz zur Verzweiflung, er schüttelt den Kopf. „Es gibt eigentlich nur eine einzige Lösung: Ich muss an die Macht. Alle Macht zu mir!"
Schulz öffnet die Tür zu einem Klinkerbau an der Kaiserstraße von Würselen und steht in einem Buchladen. Vorn stapeln sich Romane bis zur Decke, hinten Kinderbücher, fast wie damals, als er den Laden gründete, kurz nach der Therapie. Als Buchhändler wurde Schulz zum Autodidakten, er wollte seinem Ehrgeiz endlich ein Fundament legen. Er verkaufte Bücher und las wie ein Besessener, Romane aus Lateinamerika, USA, Europa und unzählige Geschichtsbücher.
In dieser Zeit lernte er seine heutige Frau kennen, sie bekamen einen Sohn und eine Tochter. Nebenbei engagierte er sich wieder in der Politik, mit 31 wurde er Bürgermeister von Würselen. 1994 brach er auf nach Europa. Vor der Buchhandlung steigt Schulz ins Auto, er hat Hunger. „Wir könnten zum Restaurant des Golfplatzes fahren." Kurze Irritation. Spielt er Golf? „Um Gottes willen. Ich bin doch ein kleiner Prolet."
Er zeigt aus dem Fenster. „Da vorne, dat Kaff, da komm ich her." Kurz darauf hält sein Wagen vor einem Fünfziger-Jahr-Bau. „In dem Zimmer, wo die Rollade runter ist, bin ich geboren." Sein Vater war der einzige Polizist im Dorf Hehlrath, die Familie wohnte in der Polizeistation.
Am Ende der Straße klaffte früher das Loch des Braunkohletagebaus. Die Kumpel in der Nachbarschaft und sein Großvater, auch ein Bergarbeiter, lehrten den kleinen Martin den Stolz des Arbeiters. Es hat sich diesen Stolz bis heute bewahrt, die Lust am Aufbegehren gegen die da oben. Wenn er über Regierungschefs spricht, klingt es, als redete er über Fabrikbesitzer, die ihre Arbeiter kleinhalten.
Später rollt sein Wagen durch Herzogenrath, die deutsche Grenzstadt zu Kerkrade. „Schwupps", ruft Schulz, „schon ist man in den Niederlanden." In seiner Kindheit wohnten die Verwandten in der Nähe und doch auf drei Länder verteilt: Deutschland, Niederland und Belgien. Für Familientreffen mussten sie an der Grenze Schlange stehen. Sein Großvater kämpfte im ersten Weltkrieg gegen die eigenen Cousins aus Belgien und Holland.
Während viele seiner Kollegen in Straßburg sitzen, weil sie von ihrer Partei abgeschoben wurden, wollte Schulz nie etwas anderes sein als Europapolitiker. Als sein Freund Sigmar Gabriel ihn im Sommer 2010 bat, er solle in die Bundespolitik wechseln, sagte er: „Kommt nicht in die Tüte. Ich bleibe in Europa."
Im nächsten Jahr will er als europaweiter Spitzenkandidat der Sozialdemokraten antreten. Sein Ziel ist der Vorsitz der Kommission. Der würde ihm endlich jene Macht und Aufmerksamkeit sichern, nach der er sich sehnt. Im Restaurant Seehof von Herzogenrath erreicht ihn eine SMS aus Italien. „Sie müssen mal mit mir nach Italien kommen", sagt er. „Weil ich da ein Volksheld bin. Nicht wie in Deutschland."
Am 2. Juli 2003 war es zur Konfrontation mit Silvio Berlusconi in Straßburg gekommen. Schulz könne prima den Kapo in einem Nazi-Film spielen, schimpfte der Italiener, weil er dessen heftige Kritik leid war. Eines Tages traf Schulz Marcello Dell'Utri, einen Vertrauten Berlusconis, im Fahrstuhl. „Sie fahren Aufzug?", fragte Dell'Utri. „Sieht man doch", antwortete Schulz. „Das ist gut. Denn auf der Treppe stürzt man so leicht." Schulz kam sich vor wie bei der Mafia, aber er ließ sich nicht einschüchtern. Später wollte Berlusconi sich versöhnen. „Aber ich bin da stur geblieben." Stur sein kann er gut.
„Kinners, ich muss mal kurz ein Nickerchen machen", sagt er auf dem Weg von Frankfurt nach Straßburg. Er lehnt den Kopf gegen das Fenster und schließt die Augen. Nach 30 Sekunden öffnet er sie wieder. „Ich könnte was singen. Oder soll ich ein Gedicht aufsagen?" Niemand reagiert. „Dann kommt jetzt das Gedicht „Bauernabschied" von Martin Schulz. Er macht eine kurze Pause: „Sense."
Schulz saust mit seinem Hippo durch Europa wie der Trommelhase aus der Werbung. Seine Tage haben 18 Stunden, die Wochenenden fallen oft aus. Die meisten Fahrer aus dem Pool des Parlaments lehnen es ab, für ihn zu arbeiten, weil ihnen sein Programm zu anstrengend ist. Die Sucht, die ihn zu zerstören drohte, hat er überwunden, aber der Drang nach dem Kick und dem großen Vergessen ist geblieben. Die bietet jetzt die Politik. Für sein Parlament, das oft vergessen wird, ist er keine schlechte Besetzung.
Nach dem Bauerngedicht ruft ein Mann vom Nobelpreis-Komitee auf seinem Handy an. Die EU soll den Friedensnobelpreis erhalten, die Frage ist, wer ihn entgegennehmen darf. Kommissionschef Barroso? Ratspräsident Van Rompuy? Oder er selbst? „Die eitlen Herren wollten ohne mich nach Norwegen fahren", sagt Schulz. „Ich fand es aber unter meiner Würde, darum zu betteln, dass ich mitfahren darf."
Sie werden nun doch zu dritt nach Oslo reisen. Es wird ein Podest geben, auf dem sie gemeinsam sitzen. „Ich bin also auf Augenhöhe. Das ist das Entscheidende." Van Rompuy und Barroso werden Reden halten, Schulz bekommt die Medaille, das ist der Kompromiss. „Jetzt mal ehrlich", sagt er. „Deren Reden interessieren am Ende niemanden. Aber die Bilder mit der Medaille, die gehen um die Welt!" Sein Kabinettschef reicht ihm die Einladungsliste des Protokolls. „Ha, da ham wir's doch! Ich bin die Nummer eins!"
Schulz sitzt am gedeckten Frühstückstisch, als sein Handy klingelt, der silberne Nokia-Klassiker aus dem Jahr 2002. „Ahh, der Barroso. Darf ich kurz?" Es beginnt der wichtigste Kampf seiner Amtszeit. Die EU muss sich auf den Finanzrahmen bis 2020 einigen. Der britische Premier David Cameron will ihr deutlich die Mittel kürzen, Barrosos Kommission und Schulz' Parlament verlangen dagegen eine Aufstockung.
„Okay, ich ruf den Hollande an, du Juncker und Monti", sagt Schulz ins Telefon. Er und Barroso mögen über Oslo streiten, in der Budget-Frage aber sind sie Partner. „Das ist echt dreist!", sagt er, als er aufgelegt hat. „Die Merkel dealt mit ‚nem Typen wie dem Cameron." 30 Milliarden weniger hätten sie vereinbart. „So machen die die EU kaputt!"
Schulz stürmt die endlosen Flure entlang, er muss jetzt mit dem Fraktionschefs reden. Dank des Vertrags von Lissabon muss das Parlament dem Sieben-Jahres-Budget zustimmen – das gibt ihm größere Macht. Schulz könnte mit einem Veto drohen, aber dafür muss er eine Mehrheit seines Parlaments hinter sich wissen.
„Was ist unsere Strategie?", fragt er, als er den Fraktionschefs gegenübersitzt. „Wenn wir 30 Milliarden kürzen, werde ich das Parlament bitten, die Arbeit einzustellen." Er fragt alle einzeln ab, ob sie die Zustimmung ihrer Abgeordneten für seinen Kurs garantieren können. Nur mit deren Rückhalt kann er in die Schlacht gegen die Regierungschefs ziehen. Es sind diese Runden, in denen er Politik macht.
Am Ende der Sitzung hat er die gewünschte Unterstützung. „Okay, Leute, sehr ernste Ansage." Er richtet sich auf. „Das ist ein großes Spiel. Was wir jetzt entscheiden, kann ein großer Moment in der Geschichte des Parlaments sein. Ich zähle auf euch! Ich spiele das hart. Nicht dass es am Ende heißt: April, April."
Am späten Abend lässt sich Schulz in einen Sessel der Limelight Bar fallen, er kommt vom Abendessen mit dem Nobel-Komitee. „Feines Rumsitzen. Gepflegtes Im-Essen-Rumpicken." Er macht vor, wie man mit spitzen Fingern Messer und Gabel hält. „Nä, das ist nix für mich."
Morgen wird im Rathaus der Preis vergeben, aber er wirkt so deprimiert wie nie zuvor in diesem Jahr. „Ich habe 19 Jahre in die Europapolitik investiert. Aber mit der Zeit habe ich das Vertrauen, dass es gut wird mit Europa, verloren." Leider gebe es keine Politiker mehr, die bereit seien, ihr persönliches Schicksal mit dem Europas zu verknüpfen. „Ich habe mir als alter Sozi niemals träumen lassen, dass ich einmal Sehnsucht nach Helmut Kohl haben würde."
Er hat viel Zeitung gelesen die letzten Tage. Aus den Kommentaren sprach reichlich Häme, dass ausgerechnet die Europäische Union den Nobelpreis bekommt. Das hat ihn frustriert. Als Schulz ins Bett geht, bleibt der Eindruck zurück, keiner Jubelfeier beizuwohnen, sondern einer Beerdigung.
Am nächsten Tag hält er im Café des Hotels eine Schatulle mit der goldenen Medaille neben sein Gesicht und klappt sie auf und zu wie das Maul eines Krokodils. Er könne nicht glauben, tatsächlich dieses Ding in der Hand zu halten, sagt er. „Wenn ich daran denke, wo ich in meinem Leben auch mal war, nämlich mal ganz unten, und dass ich jetzt, pfffff..."
Zum Kellner sagt er: „Für mich einen vierstöckigen Cognac, bitte!" Aufgekratzt erzählt er, dass er und Angela Merkel sich eben im Rathaus angesehen hätten, als am Ende der Zeremonie das Lied „Dein ist mein ganzes Herz" gesungen wurde. „Und ich dachte: Ne, du nicht. Du gewiss nicht." Den Cognac bestellt er wieder ab. „War nur ein Witz."
Eine Stunde später sitzen Barroso, Van Rompuy und er einem CNN-Moderator gegenüber. „Warum sitzen hier eigentlich drei Präsidenten rum?", fragt der Journalist und bemüht sich, das Konstrukt der EU zu erklären. Später wird darauf hingewiesen, dass die Pendelei des Parlaments zwischen Brüssel und Straßburg 200 Millionen Dollar im Jahr koste. „Das macht doch keinen Sinn", sagt der Moderator. „Warum machen Sie das?" „Wenn Sie das ändern wollen, brauchen Sie einen einstimmigen Beschluss des Rats", sagt Schulz. Er schaut Van Rompuy, den Ratspräsidenten, an , aber der wirft nur die Hände in die Luft.
Die Wahrheit ist, dass Frankreich den Standort Straßburg vor Jahrzehnten ausgehandelt hat und ihn niemals aufgeben würde, nur weil es Sinn ergeben könnte. Es ist wie mit Irland und der Finanztransaktionssteuer oder den Briten mit der Budgetkürzung. Solange die EU in entscheidenden Fragen einstimmige Beschlüsse aller 27 Mitglieder verlangt, wird sie selten entscheiden, was gut für den Kontinent ist. Sie wird entscheiden was niemandem weh tut.
In den Verträgen stehe nun mal: Sitz des Parlaments ist Straßburg, antwortet Schulz. „Wir reisen also gar nicht von Brüssel nach Straßburg. Wenn, dann reisen wir von Straßburg nach Brüssel." Es ist schwer für einen Koloss zu werben, über den die meisten den Kopf schütteln.
Am Abend stehen hunderte Menschen vor dem Grand Hotel. Sie haben Fackeln in der Hand, sie wollen die Friedensnobelpreisträger feiern, wie jedes Jahr. Um 19 Uhr treten die drei Herren von der EU auf den Balkon. Die Menge applaudiert verhalten, kein Vergleich mit den Vorjahren. Die Herren versuchen es mit winken. Barroso geht als Erster wieder rein.
Schulz dreht nun auf. Er bewegt die Arme, als würde er ein Baby schaukeln, tanzt auf der Stelle, reckt beide Daumen in die Luft, strahlt, als hätte er ein Siegtor geschossen. Plötzlich schwappt seine Freude auf den Platz über, die Leute johlen, skandieren „EU, EU". Schulz dirigiert sie, faltet die Hände zum Megafon, brüllt: „Norway, Norway." Van Rompuy ist längst geflüchtet. Die Leute mögen Schulz nicht kennen, aber sie lieben ihn jetzt. Es scheint, als sei er der Einzige in dieser grauen, unterkühlten EU-Welt, der sich die Leidenschaft bewahrt hat.
„Wissen Sie, was das Schönste an diesem Tag war?", fragt er später. Dann präsentiert er eine SMS von seiner Frau: „Ich war so aufgeregt wegen Dir, mir sind heute fünf Frikadellen angebrannt."
Die Euphorie über den Preis ist verflogen, Schulz ist zurück im Alltag Europas, draußen ist es grau, drinnen überheizt. Drei Leute vom Parlaments-TV stehen in seinem Büro. Ein Jahr Präsident, eine Bilanz. „Welche Sprache?", fragt Schulz. Er spricht Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Niederländisch, Rheinisch, alles fließend, in manchen Konferenzen wechselt er in zwei Minuten fünfmal die Sprache. Die Redakteure überlegen.
„Jut, dann mache mer datt op Kölner Platt", sagt Schulz, grinst und stellt sich selbst die Fragen. „Ein Johr als Präsident, wie wor datt? Jut! Und sons? Och jut!"
Seine wahre Bilanz ist ebenfalls nicht schlecht. Er ist der stärkste Präsident, den das Parlament je hatte. Immer mehr Regierungschefs reisen nach Straßburg, wollen dort reden, sich erklären, zusammenarbeiten. Mit einigen, wie seinem Freund Francois Hollande, versuchte er, Bündnisse gegen dessen Kollegen im Rat zu schmieden, häufig auch gegen Merkel. Die Vierergruppe zur Zukunft Europas heißt jetzt „4 plus 1". Kleine Erfolge.
Am Tag des Showdowns verlässt um zehn ein verklinkertes Haus in Würselen. Auf nach Brüssel. Heute soll im Rat der Regierungschefs die Entscheidung über das Budget fallen. Schulz wird wieder die Auftaktrede halten. Auf der Autobahn sucht er Barrosos SMS vom Vorabend. Sichere Quellen sagen, dass Cameron und Merkel einen letzten Deal gemacht hätten, schreibt der Kommissionschef. 908 Milliarden. „Ich beschwöre Dich, das zurückzuweisen!"
Schulz hat die Information gleich an Hollande weitergesimst. „Ich kann das nicht akzeptieren", kam als Antwort zurück. Schulz informiert jetzt seine anderen Freunde unter den Regierungschefs. Es wird überhaupt viel gesimst in Europa.
Er holt das Manuskript seiner Rede hervor und übt:" Sie alle wissen, dass Sie zu Hause für Ihre Beschlüsse die Zustimmung des Parlaments brauchen", ruft er in den Wagen, sein Fahrer nickt instinktiv. „Sie müssen lernen, dass das in Europa auch so ist. Das Parlament braucht nicht die Gnade der Exekutive. Die Exekutive muss die Zustimmung des Parlaments gewinnen." Seine Hände stoßen gegen das Fahrzeugdach. „Hier im Auto darf ich ja ausflippen." Nachher im Rat müsse er wieder den Staatsmann spielen.
Schulz betritt das Ratsgebäude lange vor seiner Rede, um Einzelgespräche mit seinen Vertrauten zu führen, mit Hollande, dem Belgier Elio di Rupo, Mario Monti aus Italien, dem österreichischen Kanzler Werner Faymann. Sie sollen in den Verhandlungen auf das Veto-Recht des Parlaments hinweisen, bläut er ihnen ein. Nach seiner Rede verlassen die Regierungschefs mit ihm den Saal für ein Gruppenfoto. Danach lassen sie ihn stehen und ziehen sich zur Entscheidung zurück.
Schulz fährt runter ins Erdgeschoss, um eine Pressekonferenz zu geben. Er steht am Pult, entschlossener Blick. „Ich sage Ihnen ganz klar: Ich unterschreibe keinen Defizithaushalt." Es ist der vorerst letzte Versuch, die Staats- und Regierungschefs das Fürchten zu lehren. Gegen halb zwölf steht Schulz vor seiner Limousine und fragt sein Team, wo es noch etwas zu essen gebe. Allgemeines Achselzucken. „Ihr Eierköppe, ihr wohnt doch alle hier. Ihr seid alle entlassen."
Kurz vor Mitternacht sitzt er in der Brasserie L´Esprit de Sel am Place Jourdan, bestellt ein halbes Hühnchen mit Pommes und wirkt zufrieden. „Wir wurden zum ersten Mal ernst genommen", sagt er. „Darauf habe ich seit Jahren hingearbeitet. Das ist mein größter Erfolg." Als das Huhn serviert ist, erreicht ihn eine SMS von Österreichs Kanzler Faymann mit dem Stand der Verhandlungen. Man mag ihn vor die Tür gesetzt haben, aber hat dafür gesorgt, dass er trotzdem ein wenig mit am Tisch sitzt. „Nicht hinnehmbar", sagt er und isst weiter.
Um 0.21 Uhr vibriert sein Handy, ein Anruf. „Der Werner!" Während Schulz telefoniert, malt er Zahlen auf seine Serviette, dann sagt er. „Ihr müsst in die Schlussfolgerungen schreiben: Das ist ein Angebot an das Europäische Parlament. Das ist ganz wichtig. Nicht dass Ihr reinschreibt: Das ist es jetzt. Dann gibt´s ein Nein! Aber kämpft erst mal für die 930."
Am Ende werden es 908 Milliarden. Bei diesem Ergebnis werde er nicht zustimmen, hatte er zuvor getönt. Da könne man „den Laden dichtmachen". Am Mittwoch dieser Woche wird das Parlament das Angebot wohl zurückweisen, es wird dann weiterverhandelt, alles läuft auf einen Kompromiss hinaus, der weder Gewinner noch Verlierer kennt.
Nach ein Uhr nachts schließt Schulz die Tür zu seiner Brüsseler Wohnung auf. Er steht in einem kahlen Raum, ein Tisch, ein Sofa, links geht das kleine Schlafzimmer ab. Er knipst das Licht an, schaut auf die Uhr und schüttelt den Kopf.
So erschöpft hat er das ganze Jahr nicht gewirkt. Die EU hat viel von seiner Energie geschluckt, sie ist irgendwo versickert, ohne dass Europa sich groß verändert hätte. Um das zu erreichen, müsste es wohl mehr von seinem Kaliber geben. „Ich bin hundemüde", ruft er in das leere Wohnzimmer.